Liebe Achtundsechziger, was fällt euch (um der Ehrlichkeit willen: was fällt uns) zu Kurt Georg Kiesinger ein? Nur die symbolische Ohrfeige, die ihm Beate Klarsfeld verpaßt hat? Dann solltet ihr Philipp Gasserts Biografie des „Kanzlers zwischen den Zeiten“ lesen und dabei einer alten Lieblingsbeschäftigung nachgehen: Kritik und Selbstkritik. Es könnte sein, daß ihr ein paar lieb gewordene Vorurteile und üble Nachreden korrigieren müßt: daß Heinrich Lübke kein KZ-Baumeister war, sondern diesen Ruf einer Stasi-Fälschung verdankte, hat sich vielleicht schon herumgesprochen. daß auch gegen Kiesinger so wenig vorlag, daß ihn die DDR in ihrem „Braunbuch“ gegen alte Nazis gar nicht aufgeführt hatte, könnt ihr bei Gassert nachlesen, wenn es euch damals nicht aufgefallen ist. Lieber habt ihr mit Wolf Biermann geglaubt, der „Edel-Nazi Kanzler“ habe den dritten Schuß auf Rudi Dutschke abgefeuert, auch wenn der Refrain wieder nur symbolisch gemeint war: „Ach Deutschland, deine Mörder …“

Ein bißchen viel Symbolik. Denn natürlich war Kurt Georg Kiesinger kein Mörder, weder als Kanzler der großen Koalition noch als Beamter in Hitlers Auswärtigem Amt. Er war nicht einmal „lange und an hoher Stelle Parteigenosse der NSDAP“, wie sein Parteifreund und Intimfeind in der CDU, Jakob Kaiser, wissen wollte. Sein höchstes Parteiamt war Blockwart, und der NSDAP war er nicht als „Alter Kämpfer“, sondern als „Märzgefallener“ nach Hitlers Machtergreifung beigetreten. Seine höchste Stelle im „Dritten Reich“ war eine Funkverbindungsstelle für Auslandspropaganda. Weder war er „Chefagitator Hitlers“, wie Ulbrichts Chefagitator Albert Norden behauptete, noch SA-Offizier und politischer Kommissar der Wehrmacht, wie die „Washington Post“ ungeprüft kolportierte. Ein angebliches Foto, das ihn in Uniform zwischen Hitler und Mussolini zeigen sollte, ist bloße Legende. Dagegen war die Ohrfeige Beate Klarsfelds vergleichsweise real; von ihr existiert immerhin ein verschwommenes Foto.
Kiesinger, 1969 Nicht daß Kiesingers eigene Legenden glaubwürdiger waren: Eine davon lautete, er sei „kein Kollaborateur der NSDAP gewesen, sondern deren entschiedener Gegner“, sogar „unter Aufopferung meines Berufes“. So heißt es in seinem Entlassungsgesuch aus amerikanischer Internierung. Gassert konstatiert dazu nüchtern, ein Historiker werde „den Begriff des Widerstands auf Kiesingers Fall nicht anwenden können.“ Er bestätigt zwar, daß Kiesinger seinen Parteibeitritt nicht zu einer Karriere im Staatsdienst nutzte, sondern als Rechtsanwalt und Repetitor selbst dem NS-Rechtswahrerbund fernblieb. Doch seine Rolle als studentischer „Korporationsführer“ 1933 habe er ebenso verdrängt und lange verschwiegen wie seine spätere Funktion als NS-Blockwart, in der er Parteibeiträge durch seine Sekretärin eintreiben ließ. Daß ihn ein Intrigant „liberalistischer Gesinnung“ und der Sabotage der „antijüdischen Kampagne“ der Nazis bezichtigte, kam ihm bei seiner Entnazifizierung zugute, ist aber durch belegbare Tatsachen nicht gedeckt. Auch Kontakte zu einer – so Kiesinger – „Sammlungsbewegung“ im Widerstand hat er allenfalls nach dem 20. Juli 1944 gehabt, ohne durch Aktionen „Kopf und Kragen“ zu riskieren.

In diesem Fall hätte er übrigens auch kaum eine Chance als Kanzler einer allein regierenden CDU gehabt, die es sich nie nehmen ließ, den Kanzlerkandidaten der Opposition als antifaschistischen Emigranten anzufeinden. Kanzler der großen Koalition konnte Kiesinger gerade deshalb werden, weil Willy Brandt seinen eigenen Genossen klarmachte, es gebe „gute Gründe, Deutschland von zwei Männern – aber nicht nur von zweien! – vertreten zu lassen, die aus ganz unterschiedlichen Lagern und Lebensbereichen kommen“. Im gleichen Sinn äußerte sich Herbert Wehner, nach Gasserts Worten wie Kiesinger „ein Gezeichneter. Er trug die Last der ehemaligen Kommunisten in der SPD wie Kiesinger die der ehemaligen Nazis in der CDU. Von Wehner ist der Satz überliefert, er habe in seinem Leben zwei Kardinalfehler begangen: erstens als junger Mensch Kommunist geworden zu sein und zweitens darauf vertraut zu haben, dieser Irrtum würde – sofern eingestanden – in der Demokratie nachgesehen. Das konnte Kiesinger auf sich selbst beziehen.“

Ob er es wirklich getan hat? Das bleibt auch nach beinahe 900 Seiten von Gasserts Biografie unklar. Mal retuschierte Kiesinger seine Vergangenheit mit der Behauptung, er sei aus dem NS-Rechtswahrerbund – dem er nie angehört hatte – ausgetreten, mal wollte er in der NaziPartei „von innen heraus auf eine Wende ihrer Ideologie hinwirken“. Es scheint, als habe er stets zwischen Selbstrechtfertigung und der späten Einsicht geschwankt, daß sein Schritt, so steht es in seinen postum erschienenen Erinnerungen, so sinnlos war, „wie den Teufel zur Taufe bekehren zu wollen“. Gassert hat jedoch nach jüngst entdeckten, 1966 unbekannten Dokumenten aus dem Jahr 1933 „keinen Zweifel, daß Kiesinger sich von der nationalen Aufbruchsstimmung anstecken ließ und für das katholische Deutschland eine Rolle im ,Dritten Reich‘ erblickte“.

Lassen wir es dabei. Philipp Gassert hat mit Recht den größeren Teil seines Buches darauf verwandt, Kiesingers Weg als Politiker der Bonner Republik nachzuzeichnen und die Bilanz seiner Tätigkeit im Deutschen Bundestag, als Ministerpräsident in Baden-Württemberg und als Kanzler der großen Koalition zu ziehen. Sie fällt positiver aus, als mancher zugeben will, der damals – wie etwa ausgerechnet Günter Grass – Kiesingers Legitimation bestritt, „wenn Sie, der Mitläufer von damals, es wagen, heute hier die Richtlinien der Politik zu bestimmen“. Kiesinger hat das schon vor seiner Kanzlerschaft als langjähriger Vorsitzender im Auswärtigen Ausschuß und dem von ihm angeregten Vermittlungsausschuß mit dem Bundesrat in aller Stille getan. Seit 1958 formte er als Ministerpräsident im lange Zeit umstrittenen Südweststaat eine „gesamtstaatliche baden-württembergische Identität“. Als konservativer Reformer wurde er Vorreiter der Bildungsreform und Gründer der Universität Konstanz, und mit seinem Einspruch gegen den geplanten Bodenseekanal zum ersten Umweltpolitiker seiner Partei.

Seine Rolle in der großen Koalition deutet Gassert tragisch: Außenpolitisch sei seine Öffnung zu einer neuen Ostpolitik durch den sowjetischen Einmarsch in Prag gestoppt worden und die eigene Partei gegen seinen Willen zur Rhetorik des Kalten Krieges zurückgekehrt. Innenpolitisch aber sei die große Koalition in seiner Amtszeit, gemessen an Haushaltssanierung, Bildungsreform und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, „die erfolgreichste Regierung Westdeutschlands“ gewesen. Als Kronzeugen dafür zitiert Gassert Willy Brandt, der seinen Vorgänger bei dessen Abgang mit einem noblen persönlichen Brief würdigte: Er lasse sich trotz vergangener und künftiger Differenzen nicht daran hindern, „zu dem zu stehen, was wir seit Ende 1966 miteinander geleistet haben; es ist unserem Vaterland nicht schlecht bekommen“. Auch das durfte Kiesinger auf sich selbst beziehen.

– Philipp Gassert: Kurt Georg Kiesinger 1904–1988. Kanzler zwischen den Zeiten. DVA, München 2006, 894 Seiten, 39,90 Euro.

Okt. 2006 | Allgemein, Feuilleton, Politik, Sapere aude | Kommentieren