Eine kritische Bestandsaufnahme des Internet-Phänomens Weblog – sie boomen: Im Internet gibt es Millionen von Amateur-Journalisten. Die meisten widmen sich Privatem, doch einige erheben aufklärerische Ansprüche. Können sie das Mediensystem bereichern?

In Deutschland sind auf diese Weise zum Beispiel «Fakten & Fiktionen», «Politically Incorrect» und «Gudrun Eussner» zu informativen, wenn auch oft sehr polemischen Plattformen geworden, auf denen der gegenwärtige «Kulturkampf» mit Islamisten prägnanter ausgetragen wird als andernorts.
Die rasante Entwicklung in der Weblog-Szene verblüfft selbst Experten. So bekannte David Sifry, Chef der Blog-Suchmaschine Technorati, bei der Veröffentlichung seines aktuellen Berichts «State of the Blogosphere» im August: «Ich schüttle meinen Kopf, wenn ich dies schreibe: Ich kann mir nicht vorstellen, daß es in diesem rasenden Tempo weitergeht.» Technorati verfolgte zu diesem Zeitpunkt 50 Millionen Blogs weltweit. Das ist hundertmal mehr als vor drei Jahren. Alle 200 Tage verdoppelt sich die Zahl der Blogger, weltweit werden nahezu 175 000 Weblogs täglich neu eingerichtet. Über 1,6 Millionen Einträge sind jeden Tag zu verzeichnen. In Deutschland, so schätzen Branchenkenner, sind derzeit etwa 300 000 – 500 000 Nutzer in der Szene aktiv, in der Schweiz sollen es mehr als 50 000 sein.

Spektakuläre Einzelergebnisse

Nicht nur quantitativ boomt die Blogger-Szene. Sie gewinnt auch an publizistischer Wirkung. So glückten im jüngsten Nahostkrieg einigen Bloggern spektakuläre Enthüllungen. Der Blog «Little Green Footballs» (LGF) konnte großen Nachrichtenagenturen die Fälschung von Bildern nachweisen. LGF war zuvor auch maßgeblich beteiligt, als der einflußreiche US-Fernsehmoderator Dan Rather wegen handwerklich schlampiger Recherchen zur Militärzeit des jetzigen US-Präsidenten stürzte. Die «New York Times» räumt Bloggern großes Gewicht bei der Niederlage des Senators Joe Lieberman in den Vorwahlen im Gliedstaat Connecticut ein. Und in der Schweiz mußte jüngst der Nahrungsmittelkonzern Nestlé auf eine Blogger-Attacke gegen die Verpackung eines neuen Schokoladenprodukts reagieren.
Selbst ökonomisch scheinen die Seiten, die bisher als Internet-Tagebücher allenfalls Hobbystatus hatten, interessant zu werden. Die Risikokapitalgruppe Softbank Capital gab in diesem Sommer ein Investment von 5 Millionen Dollar in die «Huffington Post» bekannt, ein 2005 gestartetes Weblog-Ensemble der Publizistin Arianna Huffington, die auf ihrer Seite mittlerweile mehreren hundert Bloggern Platz einräumt. Die Investorengruppe True Venture wiederum will ein paar hunderttausend Dollar für ein neues Weblog des Technikjournalisten Om Malik zur Verfügung stellen. Dazu gehört der Hype im «corporate blogging», bei dem versucht wird, die Weblogs auf vielfältige Weise in die Unternehmenskommunikation einzubinden.

Umverteilung der Medienmacht?
«Who killed the Newspaper?»

Was Wunder, daß da die Propagandisten einer Mediendämmerung immer lauter werden. Unter ihnen sind nicht mehr nur Blog-«Evangelisten» wie Glenn Reynolds, der in seinem Buch «An Army of Davids» die mediale Befreiung der Bürger von Bevormundung verkündet: «Die Macht, die einst in den Händen von wenigen Profis konzentriert war, ist umverteilt worden in die Hände der vielen Amateure.» Selbst Jürgen Habermas sieht mittlerweile im vielstimmigen Internet die «Wurzeln einer egalitären Öffentlichkeit von Autoren und Lesern», die die «deliberativen Elemente» in der öffentlichen Kommunikation stärke. Und der nüchterne «Economist» beschloß kürzlich einen Leitartikel (Titelthema: «Who killed the Newspaper?») mit der frohen Botschaft einer neuen vierten Gewalt: «Eine neue Kraft von Bürgerjournalisten und Bloggern brennt darauf, die Politiker zur Rechenschaft zu ziehen. Der einzelne Blogger mag voreingenommen sein und verleumden, aber als Gruppe bieten die Blogger dem Wahrheitssuchenden grenzenloses Material fürs Nachdenken an.»
Solche Euphorie verdient erhebliche Skepsis. Bereits die Zahlenangaben sind nicht sehr verläßlich. Nach einer Umfrage im Auftrag des Magazins «Focus» (Basis: 1010 Befragte) soll es in Deutschland 4 Millionen Blogger geben. Das ist sicher reine Phantasie. Auch sagen die puren Zahlen wenig, da viele der einmal gestarteten Weblogs schon kurz darauf nicht mehr weiter betrieben werden oder nur in sehr großen Abständen neue Einträge aufweisen.

Kult des (nicht nur) Subjektiven

Für Deutschland sehen die von Matthias Armborst mitgeteilten Zahlen so aus: Hier wollen rund 50 Prozent vor allem Diskussionen anregen, 46 Prozent Wissen verbreiten und 45 Prozent Kritik üben. Aber auch in der deutschen Blogger-Szene geben 91 Prozent an, vor allem das zu publizieren, was sie persönlich interessiert. Mit den publizistischen Standards ist es ebenfalls nicht weit her: Zwar finden es 78 Prozent nicht in Ordnung, wenn ungenaue und ungeprüfte Informationen weitergegeben werden. 90 Prozent geben aber zu, selbst als solche erkannte Gerüchte in ihren Blog zu setzen. Mag man solche Einstellungen bei ausschließlicher Privatkommunikation und auch bei Veröffentlichungen zu Lifestyle-Themen achselzuckend zur Kenntnis nehmen, so sind sie untauglich für die Bildung öffentlicher Meinung zu Politik oder Wirtschaft.
Nimmt man zum Kult des Privaten und Subjektiven sowie zum Fehlen verläßlicher eigener Recherchen noch die oft rüden Kommunikationsformen auf vielen Blogs hinzu, dann wird man Kritiker wie Thomas Leif, den Chefreporter des Südwestrundfunks, verstehen. Er sieht hier vor allem einen «privaten Table Dance, gespickt mit Anfeindungen, Unterstellungen und systematischer Provokation». «Forbes Magazine» nannte die Blogo-Sphäre gar die «Plattform eines Online-Lynchmobs», als es einige Fälle dokumentierte, in denen Internet-Partisanen üble Nachreden über Unternehmen verbreitet und dadurch erheblichen Schaden angerichtet hatten. Unkontrollierte mediale Brandstiftung ist kaum das Merkmal eines erwünschten Strukturwandels der Öffentlichkeit. Die technologische Tatsache, daß jeder, der über einen Internetzugang verfügt, jetzt zum Kommunikator werden kann, schafft keine neue Qualität der öffentlichen Verständigung.

Nützliche Online-Medienkritiker

Es ist nicht zu übersehen, daß einige Blogs publizistisches Profil gewonnen haben und das Medienangebot erweitern. Die Pressekritik der Blogger erfüllt mittlerweile wichtige Kontrollaufgaben, die von den etablierten Medien ignoriert werden. Auch setzen manche politisch engagierte Weblogs thematische Schwerpunkte, zu denen sie Material aus verschiedenen, auch entlegenen Medienquellen zusammenstellen. Solche Blogs werden zu Mediatoren der Aufmerksamkeit und helfen bei der Orientierung im Datendschungel. In Deutschland sind auf diese Weise zum Beispiel «Fakten & Fiktionen», «Politically Incorrect» und «Gudrun Eussner» zu informativen, wenn auch oft sehr polemischen Plattformen geworden, auf denen der gegenwärtige «Kulturkampf» mit Islamisten prägnanter ausgetragen wird als andernorts. Anerkannt sind Blogger als wichtige Informationsquellen auch, wenn es bei Naturkatastrophen um die rasche Verbreitung von Fotos und Augenzeugenberichten geht. Hier bedienen sich die konventionellen Medien regelmäßig bei ihren Herausforderern im Internet.
Nötig ist allerdings eine Marktbereinigung in der Blogo-Sphäre, die die Grenzlinie zwischen nur privater Äußerung und der Inszenierung einer Gemeinschaftskommunikation einerseits sowie der Wahrnehmung einer öffentlich bedeutsamen Rolle anderseits klarer erkennbar macht. Das bedeutet, daß die kommunikativen Verkehrsformen zivilisierter werden müssen. Wenn das die Blogger-Szene nicht selber regelt, werden das früher oder später die Gerichte tun.

Professionalisierung nötig

Publizistisch ernst zu nehmen werden auf die Dauer nur solche Blogs sein, die sich nicht als Freistil-Antipoden des Journalismus verstehen, sondern selber Formen des professionellen journalistischen Handelns übernehmen. Nicht die weitere Deprofessionalisierung des Journalismus durch bloggende Amateure kann das Ziel sein, sondern die Ausbildung einer spezifischen Netz- Professionalität – ein Internet-Journalismus ohne Journalisten ist nicht möglich ohne Aufgabe zentraler Prinzipien traditioneller Öffentlichkeit.
Sie, der Sie das gerade gelesen haben, meinen, noch nie einen Weblog im Netz besucht zu haben? Sie täuschen sich! Der Internetauftritt NEUE RUNDSCHAU ist als BLOG aufgebaut, Sie können jeden Artikel kommentieren, können uns eigene Artikel schicken, die nach Freischaltung (wir wollen dies hier doch nicht zu einem anarchisch-anonymen Instrument werden lassen) auch hier erscheinen.
Dies dann doch noch, zu guter Letzt: Da hat mich mal wer in eindeutiger Absicht gefragt: Sagen Sie mal, Jürgen Gottschling, haben Sie nicht gelernt, man müsse zwischen einem Artikel und einem Kommentar unterscheiden? Doch natürlich, antwortete ich. Aber, die NEUE RUNDSCHAU, die  i s t  Kommentar!                                                                tno/Manuel

Das Buch:

Matthias Armborst: Kopfjäger im Internet oder publizistische Avantgarde. Was Journalisten über Weblogs und ihre Macher wissen sollten. Berlin 2006. 14.90 €

Okt. 2006 | Allgemein, Feuilleton, Zeitgeschehen | 1 Kommentar