Um sich von der Bedrohung nicht irremachen zu lassen und dem Terror widerstehen zu können, ist es nötig, seine Verursacher besser zu kennen. – Gibt es ein psychologisches Profil der in den westlichen Metropolen zuschlagenden Attentäter?
Als Saddam Hussein wenige Wochen vor dem Einmarsch der alliierten Truppen in den Irak wütende Drohungen ausstieß, brüstete er sich auch, daß 1600 Selbstmordattentäter bereitstünden, um den Eindringlingen ihr Besatzungsleben zur Hölle zu machen. Nicht wenige hielten dies für ein unerhebliches Bramarbasieren des Diktators. Doch er sollte Recht behalten: Die eigenen wie die aus anderen Ländern herbeigeströmten, sozusagen als Internationale des Terrors funktionierenden «Kämpfer des heiligen Krieges» sind im besetzten Land nicht zu kontrollieren. Die täglichen Toten und die entsetzlichen Bilder sind längst zu einem Fanal auch für Europa geworden; die Gemetzel in Madrid und London bestätigen es. Die stoische Ruhe in London, die weltweit gerühmt wurde nach dem ersten Anschlag, weicht der Angst, seit klar geworden ist, daß die Attentäter bisher „unauffällige Mitbürger“ sind – eine Tatsache, die das Unheimliche an diesem Metropolen-Terror verstärkt.
Attentäter «dort» und «hier»
Es ist viel geschrieben worden über die palästinensischen Selbstmordattentäter, diejenigen mit dem «primären Trauma» einer direkten Zeugenschaft der israelischen Repression. Es sind vorwiegend Jugendliche, die in verschwörerischen Gruppen indoktriniert und angeleitet werden und die Rache mit dem Wunsch nach direktem Zugang zu Allah verbinden, voller Stolz zeigen sie sich in den Abschiedsvideos. Man darf vermuten, daß es Veränderungen, Spaltungen im Ich, ja wohl sogar Kurzschlüsse in den Verschaltungen im Gehirn sind, die die potentiellen Täter vollkommen immunisieren gegen jeden Gedanken, ja jedes Gefühl für Mitmenschlichkeit. Töten und Rache sind dann nicht nur erlaubt, sondern ein heiliges Werk, zum Ruhm der fanatisierten Gruppe, die das offen proklamiert. Die gleichzeitig angestrebte «Vernichtung Israels» ist ein illusionäres, aber für die aufgeheizte Phantasie doch greifbares Ziel, das den Kampf scheinbar rechtfertigt.
Anders die «Metropolen-Täter». Auf ihren Bildungsgrad ist oft hingewiesen worden; sie waren und sind (wenn nicht international tätige «Kämpfer» wie in Afghanistan, Kaschmir, Pakistan, im Irak und anderswo) Studenten, sogar Graduierte mit entwickelter Intelligenz und mit eher starkem Ich. Das macht es schwieriger, sie zu pathologisieren. Pathologisch ist nur die Aufhebung der Tötungshemmung, der Hemmung, unvorstellbare Grausamkeiten zu begehen. Wie in allen Migrationsfamilien ist die zweite Generation, wenn die erste sich mühsam wenigstens äußerlich angepaßt hat, eine Symptomträgerin: Beim Psychotherapeuten landen diejenigen, die gravierende neurotische oder psychotische Symptome entwickeln; in den Gefängnissen die Jugendlichen, die mit ihrem Frust, ihrem Haß und ihrer sozialen Aussichtslosigkeit nicht klarkommen und straffällig werden. Andere finden Halt bei aufpeitschenden Haßpredigern, und nur die «Stärksten» sind fähig, einen ganz eigenen Glauben, einen nach außen gut kontrollierten Haß und eine Fähigkeit zur Konspiration wie zur differenzierten Logistik zu entwickeln. Sie leben ein seelisches Doppelleben, schauspielern – als «Schläfer», also auf Abruf wartende Täter – ein angepaßtes Leben, bei dem sie sich aber heimlich weiter indoktrinieren lassen.
Terror-Elite und Konkurrenz
Was die «Metropolen-Täter» zur Selbstmordtat befähigt, sind andere Motive als diejenigen derer, die sich nach Märtyrer-Ruhm, vielen Jungfrauen im Paradies nebst fließender Milch und fließendem Honig sehnen: ein totaler, politisch aber gewissermassen durchdachter Haß auf westliche Lebensformen, in dem sich auch der Wunsch nach einer anderen Identität und der Umkehrung der Verhältnisse ausdrückt – nach Rache für Demütigungen, mögen sie auch «indirekt» erlitten sein. Diese Terroristen bilden eine Art Elite mit weltweiten Verbindungen. Sie wollen beweisen, daß sie den Krieg in die Städte tragen können, daß sie die Herren über Leben und Tod sind. In ihren kleinen Zirkeln wird die Zerstörung des Welthandelszentrums als Vorbild und als Sieg gefeiert, und Bin-Ladin hat seine Anhänger ermutigt, nach immer schrecklicheren Szenarien Ausschau zu halten. Bin Ladin und Zarkawi denken global, und sie haben dem ganzen Westen den Krieg erklärt. Es gibt tausendfache Tötungsaufrufe in ihren Botschaften; und wo das Selbstwertgefühl, individuell wie kollektiv, durch Erfahrungen der Demütigung massiv bedroht ist, bedeutet die «licence to kill» eine Aufwertung, mit der man sich identifizieren kann. Ein latenter Wettbewerb mag unter den Gruppen im Gang sein, wer das «perfekteste» Attentat zustande bringt und, so pervers das klingt, den Anschlag mit den meisten Toten und Verletzten und mit den größten bedrohlichen Auswirkungen auf Politik und Alltagsleben. Auch das verleiht dem Terror eine unheimliche Dynamik.
Die Indoktrination kennt viele Wege
Was Wunder, natürlich sind auch die Grausamkeiten von Abu Ghraib für die terroristische Gehirnwäsche in der jüngstvergangenen Zeit, nicht zuletzt durch die dauernd wiederholte Verbreitung der Bilder, ein «gefundenes Fressen»; es sind millionenfach dokumentierte Symbole der Demütigung, die in ihrer Wirkung kaum überschätzt werden können. daß die USA Guantánamo, das nahezu rechtsfreie Lager, nicht längst geschlossen haben, ist in diesem Lichte unfaßbar. Es dient den Terroristen als willkommenes Beweisstück für die tiefe Unmenschlichkeit des westlichen Systems.
Es dringt nur mühsam ins Bewußtsein, daß sich die Terroristen als Elite in einem globalen Krieg verstehen, mit einem klaren manichäischen Weltbild (innerhalb welcher das Feindbild den Feind erst macht), in dem die Schmach endlich wettgemacht wird und in dem die kulturellen Werte des Westens nur als der Überbau über Imperialismus und egoistischer Globalisierung erscheinen. Die Gefahr ist real, daß sich der Krieg ausweiten wird; daß unsere Gesellschaft ungemütlicher und auch repressiver wird, daß die Polarisierung zunimmt.
Jürgen Gottschling