Ach, wenn wer seine Memoiren schriebe, der seine Erinnerungen, überhaupt alles und dennoch dezidiert auch sein Werk würde messen lassen sollen an alledem, was es längst schon gegeben hat? Wie wäre es zum Beispiel, wenn ein Politiker, und sei es ein ehemaliger Bundeskanzler, bevor er zu schreiben beginnt, vor einen Bücherschrank treten müßte, um sich wenigstens einen Abend oder zwei, mit dem zu beschäftigen, was die von ihm vertretene, verteidigte und zutiefst verinnerlichte europäische Kultur auf diesem Gebiet hervorgebracht hat?
Gerhard Schröder in der Friedrich-Ebert-Gedenkstätte Heidelberg. Foto: Antoine Mechler
Nach Rousseau? : „Ich habe mich verächtlich und niedrig gezeigt“
Vielleicht würde er auf Rousseaus „Bekenntnisse“ stoßen, auf jene erste von fast tausend Seiten, die einen erschauern lassen würde, erkennte man die Kühnheit, ja, die Anmaßung, mit der dort formuliert wird, was sie beabsichtigt: „Hier ist, was ich geschaffen, was ich gedacht, was ich gewesen. Mit gleichem Freimut habe ich das Gute und das Böse gesagt … Ich habe mich so gezeigt, wie ich gewesen bin: verächtlich und niedrig, wo ich es war, und ebenso edelmütig und groß, wo ich es war.“
Würde sich damit nicht überhaupt erst der Sinn des ganzen Unterfangens erfüllen? Würde er. Ja!
Rousseau war kein Mann, der bescheiden von sich dachte. An zitierter Stelle schrieb er: „Ich bin nicht gemacht wie irgendeiner von denen, die ich bisher sah, und ich wage zu glauben, daß ich auch nicht gemacht bin wie irgendeiner von allen, die leben.“
Auch Gerhard Schröder denkt nicht eben gerade bescheiden von sich – nur ist er – es sei geklagt – gemacht wie alle, die sich selbst überschätzen. Bei Schröder liest sich das so: „Bei allem Selbstbewußtsein, über das ich verfüge und das sich auf Leistung gründet, habe ich nie aufgehört, mich über die eigenen Möglichkeiten zu wundern“ – was man ja gerne selber auch einmal zu tun in der Lage sein wollte …
„… und Freiheiheit. Sind des Glückes Unterpfand“ – Und so waren Freiheit und Glück, so waren alle Schröderschen Unternehmungen von Erfolg gekrönt …
Es vorweg zu nehmen, zeigt er sich an keiner Stelle seines Buches verächtlich oder gar niedrig. Alle von ihm getroffenen Entscheidungen, waren richtig, alle von ihm gegebenen Anregungen waren – was Wunder -von Erfolgen gekrönt. Mißerfolge (was isn das?) hatte er keine zu vertreten. Ging etwas schief, waren andere schuld, denen er ihre Schwächen großmütig nachsieht, sofern sie geständig sind. Natürlich gibt es auch andere Ansichten als die eigenen, man ist ja Demokrat, aber diese anderen Ansichten sind wahlweise „Absurditäten“, „verschroben“, „weltentrückt“, und wenn’s argumentativ doch mal eng wird, hilft ein „Darin bin ich sicher“ oder ein „Das ist meine feste Überzeugung“, um hartnäckige Zweifler zum Schweigen zu bringen.
Nein, es wäre übertrieben, spräche man von Schröders Sprache als einer anderen. Alsdann, wenn Sie mir bis hierhin folgen können, sprechen wir mal von seiner Wortwahl. Die Adjektive nämlich „groß“, „wichtig“ und „bedeutend“ fahren bei Schröder Sonderschichten. Für einen Politiker ist das (natürlich) normal. Normal ist für einen Politiker auch und es ist und es darf sein (wer erlaubt denen eigentlich das alles) auch die Vorliebe für Euphemismen. Auf allerdings einer Strecke von 515 Seiten stellt sie den Leser häufig auf eine harte Geduldsprobe. Vom „fernen Tschernobyl“ ist ausgerechnet und n ur zum Beispiel dann die Rede, wenn sich herausstellt, daß Tschernobyl weniger fern als gar nicht nicht fern ist.
Ein Text voller Euphemismen
Wenn er sich um „junge“ Soldaten sorgt (was ist mit den älteren?), die er in den Krieg schickt (der selbstverständlich nicht so heißt), schickt er sie nicht etwa in den Tod, sondern „in eine für sie ungewisse Zukunft“, die, möchte man hinzufügen, schnell vorbei sein kann, wenn man zum Beispiel in Kabul im falschen Lastwagen sitzt. Menschenleben sind, wenn es um Opfer geht, die ein „Handeln“ (=Krieg) erforderlich machen, grundsätzlich „unschuldig“, als gäbe es auch „schuldiges“ Menschenleben und nicht vielmehr schlicht: Schuld.
Ausflüge in die Welt der Literatur werden womöglich gar nicht als solche bemerkt, und gehen jedes Mal gründlich in die Hosen. Der Terroranschlag des 11. September 2001 galt nicht nur dem World Trade Center sondern dem, „was unsere Welt im Innersten zusammenhält.“ Wir erinnern uns, Faust paktiert vergeblich mit dem Teufel, um eben dies herauszufinden, doch erfährt es bis zum Schluß nicht. Schröder hingegen scheint es ganz genau zu wissen. Fausts Problem, „daß ich nicht mehr mit saurem Schweiß / Zu sagen brauche, was ich nicht weiß“ ist nicht seines. Bleibt die Frage, warum er ihn zitiert.
In die Hose gehendes Faust-Zitat
Ein andermal heißt es: „Ich erinnere mich an Zeiten, in denen ich aus einem kurzen, von unruhigen Träumen begleiteten Schlaf hochschreckte“ – um festzustellen, daß er sich in ein Ungeziefer verwandelt hatte? Nicht doch, trotz übereinstimmender Initialen ist Gerhard Schröder kein Gregor Samsa und wird, als er das hinschreiben ließ, an den Anfang von Kafkas „Verwandlung“ wohl nicht gedacht haben, aber irgendwie literarisch klingen sollte es doch.
Sei’s drum, den Beweis, daß er kein Dichter ist, hat Schröder erbracht, die „große Herausforderung“ dieses Buch zu schreiben hat er ja auch nicht deshalb angenommen oder weil ihm sein Verlag fast eine Million Euro dafür bezahlt hat, sondern um „Rückschau zu halten“. Das tut er in zehn Kapiteln. Das erste behandelt seine Kindheit. Die hat er in Bexten verbracht. Die Verhältnisse sind klein, die Mittel knapp, doch schon damals ist der Ball rund und der Wille groß. „Acker“ ist Schröders Spitzname als Mittelstürmer bei TuS Talle. Als die deutsche Nationalmannschaft 1954 Weltmeister wird, ist er zehn Jahre alt, das Finale gegen Ungarn sieht er im Fernsehen.
Altbundeskanzler sieht sich als einen Held von Bern – im Geiste
„Noch heute kann ich die gesamte Mannschaft, die 1954 Weltmeister wurde, frei aufsagen. Gewiß nicht jeden Tag, aber doch immer dann, wenn ich sie brauche, um geerdet zu bleiben, stiegen später die Bilder dieser Jahre ziemlich regelmäßig in meiner Erinnerung auf. Mancher politische Gipfel, manches Bankett, dem ich als Kanzler nicht entgehen konnte, verlor seine sichtbar aufgeplusterte Bedeutung.“
Bei der Premiere von National-Regisseur Sönke Wortmanns „Wunder von Bern“ 2004 hat der Kanzler, wie er im anschließenden Interview „gestand“, geweint. Ganz ohne sichtbar aufgeplusterte Bedeutung war das damals eine Nachricht, die starke Verbreitung fand. Was Wunder, wie wir jetzt wissen, denn Schröder ist ja – im Geiste – selbst ein (ein? – der!) Held von Bern.
Schröder ist mit sich und seiner Kanzlerschaft zufrieden
Das erste Kapitel endet mit Schröders Zeit als Ministerpräsident von Niedersachsen. Im Schweinsgalopp werden kurz die wichtigsten politischen Erfolge abgehandelt, bevor es dann endlich richtig losgeht. Kapitel zwei bis zehn behandeln Schröders Kanzlerschaft. Im wesentlichen werden diese Themen abgehandelt: Zwangsarbeiterentschädigung, Kosovo-Krieg, Bündnis für Arbeit, Machtkampf mit Oskar Lafontaine, Kabinettsumbildungen, China-Reise, 11. September 2001, Enduring Freedom, Vertrauensfrage, Irak-Krieg, Französisch-Russisch-Deutsche Allianz, ein wenig Innenpolitik (BSE, Flut etc.) ,Wiederwahl 2002, Europa als Weltmacht, Agenda 2010, Putins Russland, Wahl 2005.
Leider erfährt man nichts, was man nicht auch schon als durchschnittlich interessierter Zeitungsleser in diesen sieben Jahren erfahren hat, und sogar noch viel weniger. Die zugleich umwerfende und ungemein beruhigende Neuigkeit, die Schröder zu verkünden hat, ist jedoch die, daß während seiner Regierungszeit absolut keine Fehler gemacht wurden, wenigstens nicht von ihm, bzw. alle Herausforderungen bestmöglich bestanden wurden, weshalb die SPD jetzt auch schon in der dritten Legislaturperiode an der Regierung beteiligt ist, was Schröder, dem die SPD dies selbstredend zu verdanken hat, „mit Befriedigung erfüllt“. (Dies alles lesend denke ich, wie sehr wir diesen Mann hätten gerade in Heidelberg brauchen können. Da wäre die OB-Wahl nicht so schwarz verlaufen, daß die SPD nach waterlooschem Ausgang des 1. Antritts eine wiewohl grüngefärbte schwarze Wahlaussage hätte machen müssen (müssen?) – Auf diese Dame hereinzufallen, die Allen Alles verspricht, da gehört schon eine gehörige Portion weggehört haben dazu… Hätte die SPD es sein lassen, wäre sie ein Philosoph geblieben (geblieben?)
Kriege waren ernste Probleme
Natürlich gab es auch ernste Probleme, den Kosovo-Krieg etwa. „Wir mußten unseren Bündnisverpflichtungen nachkommen. Wegducken war nicht möglich.“ Handlungsspielraum: keiner. Ach so, und wir dachten schon, es wäre ein Widerspruch, sich von den ehemaligen Mitläufern der ehemaligen Friedensbewegung aus den Achtzigern wählen zu lassen, um gleich darauf Belgrad zu bombardieren.
Bei Afghanistan zickten dann auch prompt einige rot-grüne Weltverbesserer im Bundestag herum und wollten nicht begreifen, daß es kein Zurück mehr gab. Die Bündnistreue erlaubte keinen Handlungsspielraum. Kanzler Schröder stellte die Vertrauensfrage, und weil sie die sogenannte Regierungsverantwortung dann doch nicht so schnell wieder los sein wollten, stimmten sie der Beteiligung an Enduring Freedom zu. Was für eine überzeugende Entscheidungsfindung!
Widersprüche als „Bündnistreue“ verkauft
Medien und Öffentlichkeit hatten sich auf diese neuen Zeiten gerade richtig eingestellt, und als sie dachten, es geht wieder los, diesmal gegen den Irak, machte Kanzler Schröder ihnen einen Strich durch die Rechnung. „Deutschland, das habe ich versichert, beteiligt sich nicht am Irak-Krieg. Aber natürlich wird Deutschland seine Verpflichtungen im Rahmen des Nato-Bündnisses erfüllen.“
Ach so, und wir dachten, es wäre ein Widerspruch, „No War“-Transparente aus dem Fenster zu hängen und gleichzeitig Überflugsrechte, Start- und Landerechte und Objektschutz zu gewähren. Aber so einfach liegt der Fall nicht. Am Irak-Krieg nahmen wir nicht teil, weil es kein UN-Mandat dafür gab, die logistische Unterstützung sowie die „unserer Dienste“, wie Schröder den BND besonders diskret nennt, haben wir den USA dennoch gewährt. daß „unsere Dienste“, wie es aussieht, dabei ein zumindes klein wenig mitgefoltert haben, bleibt bei Schröder selbstverständlich unerwähnt, aber warum das notwendig war, wird auch der Uneinsichtigste mittlerweile begriffen haben. Und? Wie lautet die richtige Antwort? Richtig, Bündnistreue. Dem deutschen Wähler diese Quadratur des Kreises als Kriegsgegnerschaft zu verkaufen, muß als die eigentliche politische Großtat betrachtet werden, weshalb Schröder sich die Wiederwahl 2002 redlich verdient hat.
Ein Hauch von Zweifel an der eigenen Unfehlbarkeit
Einmal, ein einziges Mal, taucht etwas auf, was man auf den ersten Blick für eine unbewußte Vorstufe von Selbstkritik halten könnte, jedoch war es bei genauerem Hinsehen nur eine optische Täuschung: „Trotz aller rationaler Notwendigkeit und der Überzeugung, das Richtige zu tun, hatten wir und jeder für sich immer auch Augenblicke, in denen wir den nagenden Zweifel verspürten. Mir war klar, daß die zu leistende Bündnistreue die Nagelprobe für die Regierungsfähigkeit der rot-grünen Koalition sein würde. Dennoch verständigten wir uns darüber intern in einem Dauergespräch, an dem natürlich auch Verteidigungsminister Rudolf Scharping teilhatte, der in der öffentlichen Diskussion über diesen Zeitenwechsel der deutschen Außenpolitik eine wichtige und gar nicht zu überschätzende Rolle spielte.“
Das stimmt. Wir erinnern uns, wie Scharping nach Überwindung der nagenden Zweifel in gar nicht zu überschätzender Weise mit Gräfin Pilati im Pool planschte, natürlich nicht, ohne vorher bei der „Bunten“ einen Fotografen zu bestellen.
Wladimir Putin ist für Schröder ein lupenreiner Demokrat
Und sonst? Wladimir Putin? Ist ein lupenreiner Demokrat. Gottseidank, wir dachten nämlich schon, er würde einen Vernichtungskrieg gegen die Tschetschenen führen und trage möglicherweise die politische Mitschuld an Auftragsmorden wie zuletzt an der kritischen Journalistin Anna Politkovskaja. Aber das stellt sich nur für uns Unwissende so dar. Nichts erfahren wir über Schröders Engagement in der russischen Gasindustrie, nichts darüber, welche Rolle der BND im „Krieg gegen den Terror“ unter seiner Regierung spielte, nichts darüber, ob er vielleicht irgendein politisches Ereignis heute anders bewerten würde als damals. Kritikern sei gesagt: „Gegen politische Kurzsichtigkeit und Dummheit gibt es leider keinen Schutzanzug.“ Man wage nicht, ihm zu widersprechen.
Schröder sagt, „Bundeskanzler“ sei für ihn nach wie vor die richtige Anrede. Es macht nichts, daß er sich immer noch dafür hält. Andere halten sich für Napoleon. (Bei einem Besuch in der Friedrich-Ebert-Gedenkstätte in Heidelberg – Foto: Gottschling – genießt er hier die Nähe zum Reichskanzler.) Er läßt wissen, daß er es bevorzugen würde, auf der Leinwand von Götz George dargestellt zu werden, wenn, sicher demnächst, die Verfilmung von „Entscheidungen“ in Angriff genommen wird.
Unweigerlich denkt man an Georges Glanzleistung als Hermann Willié in Helmut Dietls „Schtonk!“ Vielleicht sind die Requisiten von damals ja noch vorhanden. Und wer übernimmt Scharping und Lafontaine? Am besten die beiden selbst. Jeder Charakterdarsteller würde ja an diesen Rollen verzweifeln.
Vorwärts, und schnell vergessen …
Fragt man sich abschließend: Welchen Sinn hat der Kauf eines solchen Buches eigentlich, außer Herrn Schröder noch ein ganz klein wenig mehr als noch mehr reicher und sich selbst noch ein bßchen dümmer zu machen? Nun ja, dann seinen wir mal ehrlich: Keinen! Es ist Lesefutter fürs Stimmvieh. Nun denn: “Vorwärts und schnell vergessen! – die Solidarität …
Aber , was bleibt dann uns, was bleibt – wie immer wir uns definieren? Wie auch immer und zu guter Letzt diese Empfehlung: Sparen Sie sich das Geld für das Buch. Entweder für ein Weihnachtsgansessen, oder für überhaupt. Oder, besser: Spenden Sie es UNICEF – andere Kinder sollen doch auch mal ne Chance haben.