Begriff in erster Linie „Kriegsführung mit spiritueller Bedeutung“ – David Cook räumt mit verharmlosenden Gerüchten auf: In seinem gerade veröffentlichten, fesselnden und exzellenten Buch „Understanding Jihad“ weist David Cook, Islamwissenschaftler an der Rice University in Houston, die qualitätsarme Diskussion ab, die seit geraumer Zeit über die Natur des Jihad in Umlauf gebracht wird: Daß er nämlicheine Form offensiver Kriegsführung oder (daß das geglaubt werde, scheint angenehmer) eine Art moralischer Verbesserung des Selbst wäre.
Als „simple Behauptungen ohne jeden Beleg“ tut David Cook entsprechende Statements ab. Damit schwimmt er in seiner Disziplin gegen den Strom. Wer nämlich kritische Fragen über islamische Lehren aufwirft, macht sich in den Augen folgsamer Schüler des Anglisten Edward Said des „Orientalismus“ schuldig, weil er den Islam als „den anderen“ konstruiert.
Cook beläßt es aber nicht bei Polemiken gegen jene mit „einer Abneigung, die islamische Geschichte zu behandeln, wie sie war“. Statt dessen wartet er in seinem Buch „Understanding Jihad“ mit einer Analyse der Veränderungen des Dschihad-Begriffes in 14 Jahrhunderten Islam auf – und tut der Islamisten Behauptung, Jihad beschreibe „die Bemühung ein gutes Leben zu führen“ als „abgedroschen und lachhaft“ ab. Im Lauf der Geschichte und auch heute, schreibt Cook dezidiert fest, bedeutet der Begriff in erster Linie „Kriegsführung mit spiritueller Bedeutung“.
Zwar hat Muhammad den Quellen nach keinen seiner Feldzüge als Dschihad geführt; wie auch immer wurden und werden sie aber dennoch zu Vorbildern religiös legitimierter Kriegführung mißbraucht. Gegen Ende seines Lebens wurden ihm die Koranverse 9:5 und 9:29 offenbart, die dazu aufrufen, Juden und Christen zu unterwerfen und wieder vom Islam abgefallene arabische Heiden zu töten, wenn sie nicht bereuen. Diese Verse des Schwertes heben, da sie spät offenbart wurden, nach der gängigen Auslegungslehre frühere wohlwollende Aussagen über die Ungläubigen auf.
In den folgenden drei Jahrhunderten sammelten Gelehrte Berichte über vermeintliche Aussprüche und Handlungen Muhammads und faßten sie in Kompendien zusammen. Als „Hadith“ bilden diese Überlieferungen die zweite Rechtsquelle des sunnitischen Islam. Die Aussagen des Hadith zum Dschihad stimmen in den Grundzügen mit jenen des Koran überein, doch mit der Verherrlichung des Martyriums wird ein entscheidendes neues Element eingeführt. Hier tauchen die paradiesischen Verheißungen für den gefallenen Streiter auf. Die Pflicht der muslimischen Gemeinschaft, den Herrschaftsbereich des Islam militärisch zu erweitern, war in der islamischen Rechtswissenschaft, die in den ersten drei Jahrhunderten entstand, unumstritten. Allerdings wurden zugleich Regeln zur Schonung Unbeteiligter oder Gefangener festgelegt, den der besiegte Feind sollte sich ja bekehren oder Steuern zahlen.
Allerdings geriet die Expansion des islamischen Herrschaftsbereichs schon bald ins Stocken, weil das Einheitsreich in diverse Nachfolgestaaten zerfiel. Zudem veränderte sich die Zusammensetzung des Militärs radikal: An die Stelle arabischer Glaubenskrieger traten „Militärsklaven“ meist zentralasiatisch-türkischer Herkunft. Als Folge davon wurden die Bedeutung der Begriffe Dschihad und Martyrium in den Debatten islamischer Theologen und Rechtsgelehrter ausgeweitet. Nun entstanden jene Floskeln, die heute benutzt werden, um den Dschihad den militanten Charakter abzusprechen. Cook warnt aber eindringlich vor dem Trugschluß, der militärische und der spirituelle Dschihad seien als Gegensatz betrachtet worden. Vielmehr sollte die Gleichsetzung mit dem respektierten militärischen Dschihad unterstreichen, wie wichtig der Kampf gegen die eigenen Begierden ist. Besonders deutlich zeigt sich dies im Werk von al-Ghazzâlî (gest. 1111), dem meistgeschätzten Theologen des sunnitischen Islam. Er prägte die klassische Formulierung vom „Kampf gegen die eigene Triebseele“, lobt an anderer Stelle jedoch den Kämpfer, der allein gegen die Übermacht des Feindes zu Felde zieht, um ihm Schaden zuzufügen: ein Text, der heute zur Legitimation von Kamikaze-Morden herangezogen wird.
Parallel zu seiner Verwässerung wurde der Dschihad-Begriff jedoch auch radikalisiert. Als Reaktion auf die Erfolge spanischer Heere und der Kreuzritter seit dem 11. Jahrhundert und mehr noch die Mongoleninvasionen im 13. Jahrhundert wurde der Dschihad von einem Mittel der Expansion zu einem Mittel der Selbstverteidigung. Rücksichtnahme auf den Gegner wurde dabei als überflüssig erachtet.
Den Widerstand gegen den europäischen Imperialismus legitimierten Muslime als defensiven Dschihad. War die Fremdherrschaft aber erst einmal etabliert, machten viele ihren Frieden mit den neuen Herren. Sie brachten nun Erklärungen des Dschihad in Umlauf, die diesem Konzept jeglichen aggressiven Charakter absprachen. Cook zeigt, daß Hasan al-Banna, der Gründer der Muslimbrüder, solche Vorstellungen teilte. Die Dschihad-Konzepte von al-Qaida, „globalist jihad“ in der Wortwahl von Cook, gehen jedoch auf den ägyptischen Islamisten Sayyid Qutb zurück, der in der Konfrontation mit dem sozialistischen Nasser-Regime alle Systeme, die nicht auf der Scharia beruhen, zum neuen Heidentum erklärte. Für ihn und seine geistigen Erben gilt es die Ungläubigen jedoch nicht zu bekehren, sondern zu vernichten.
Cook führt den Leser anschaulich durch die wandlungsreiche Geschichte des Dschihad. Weitere Elemente des islamischen Denkens, die zum Verständnis des Zusammenhangs unentbehrlich sind, werden von ihm nicht vorausgesetzt, sondern erklärt; seine Leistung liegt darin, daß der die Entwicklung des Jihad von Mohammed bis Osama verfolgt, verfolgt, wie das Konzept sich im Lauf der vierzehn Jahrhunderte veränderte. Die Zusammenfassung in diesem Artikel wird Cooks ausführlicher Forschung, zahlreichen Beispielen und durchdachter Analyse nicht gerecht, aber selbst eine flüchtige Skizze zeigt die Entwicklung des Jihad auf:
Der Koran lädt Muslime ein ihr Leben für die Zusicherung des Paradieses hinzugeben.
Die Hadithe (Aufzählungen von Mohammeds Taten und persönlichen Worten) sind ausführliche Darlegungen zum Koran; sie bieten besondere Verfügungen zu Verträgen, Lohn, Beute, Gefangenen, Taktiken und vieles mehr. Muslimische Rechtsgelehrte woben aus diesen Regeln ein Gesetzeswerk.
Während seiner Jahre an der Macht führte der Prophet durchschnittlich neun Feldzüge im Jahr oder, anders gerechnet, einen alle fünf bis sechs Wochen; daher half der Jihad dabei, den Islam ab seinem Entstehen zu definieren.Nicht-Muslime zu erobern und zu erniedrigen, das war – weist Cook nach – eine Haupteigenschaft des Jihad des Propheten. Während der ersten Jahrhunderte des Islam „war die Interpretation von Jihad unverfroren aggressiv und expansiv“. Nachdem die Eroberungen abklangen, waren Nicht-Muslime kaum eine Bedrohung und Sufi-Ansichten vom Jihad als Verbesserung des Selbst entwickelten sich als Ergänzung der kriegerischen Bedeutung. Die Kreuzzüge, der Jahrhunderte dauernde Versuch Europas das Heilige Land zu kontrollieren, gaben dem Jihad eine neue Dringlichkeit und verursachte, was Cook die „klassische Theorie“ des Jihad nennt. Sich in der Defensive wiederzufinden führte zu einer Verhärtung der muslimischen Haltung.
Die mongolischen Invasionen des dreizehnten Jahrhunderts unterwarfen einen großen Teil der muslimischen Welt, eine Katastrophe, die nur teilweise durch die nominelle Konversion der Mongolen zum Islam gemildert werden konnte. Einige Denker, insbesondere Ibn Taymiya (gestorben 1328), kamen zur Unterscheidung zwischen wahren und falschen Muslimen; und dazu, dem Jihad neue Bekanntheit durch die Bewertung der Gültigkeit des Glaubens einer Person über seine Bereitschaft zur Führung des Jihad.
Die „Reinigungs-Jihade“ des neunzehnten Jahrhunderts fanden in verschiedenen Regionen gegen Mit-Muslime statt. Der radikalste und folgenreichste davon war der Jihad der Wahhabisten in Arabien. Auf der Grundlage von Ibn Taymiya verdammten sie die meisten nicht wahhabischen Muslime als Ungläubige (kafir) und führten gegen diese Krieg. Der europäische Imperialismus inspirierte jihadische Widerstandsbemühungen, besonders in Indien, dem Kaukasus, Somalia, dem Sudan, Algerien und Marokko, die aber letztlich alle scheiterten. Diese Katastrophe bedeutete, daß ein neues Denken nötig war.
Das neue islamistische Denken begann in den 1920-er Jahren in Ägypten und Indien, aber der Jihad nahm seine heutige Qualität der radikal offensiven Kriegsführung erst mit dem ägyptischen Denker Sayyid Qutb (gestorben 1966). Qutb entwickelte Ibn Taymiyas Unterscheidung zwischen wahren und falschen Muslimen weiter, um Nicht-Islamisten als Nicht-Muslime anzusehen und ihnen dann den Jihad zu erklären. Die Gruppe, die 1981 Anwar El-Sadat ermordete, fügte dann die Idee des Jihad als Weg zur Beherrschung der Welt hinzu.
Der Krieg gegen die Sowjets in Afghanistan führte zum (bisher) letzten Schritt in dieser Entwicklung. In Afghanistan versammelten sich erstmals Jihadisten aus der ganzen Welt, um für den Islam zu kämpfen. Abdullah Azzam, ein Palästinenser, wurde 1980 zum Theoretiker des globalen Jihad und gab ihm eine bis dahin nicht gekannte zentrale Rolle, beurteilte jeden Muslim ausschließlich nach seinem Beitrag zum Jihad und macht den Jihad zur Rettung der Muslime und des Islam. Daraus wurde schnell der Selbstmord-Terrorismus und bin Laden.
Cooks belesene und aktuelle Studie hat viele Folgen, darunter diese:
- Das derzeitige Verständnis des Jihad ist extremer als je zuvor in der islamischen Geschichte.
- Dieser Extremismus deutet darauf hin, daß die muslimische Welt eine Phase durchmacht, die durchgehalten und überwunden werden muß, vergleichbar analog gräßlichen Zeiten in Deutschland, Russland und China.
- Der Jihad hat sich bis heute immer weiter entwickelt und wird das in der Zukunft ohne Zweifel weiter tun.
- Die exzessive Form des Jihad, wie er derzeit von Al-Qaida und anderen praktiziert wird, könnte – so prophezeit Cook fast – zu seiner „entschiedenen Ablehnung“ durch eine Mehrheit der Muslime führen. Der Jihad könnte sich dann in ein nicht gewalttätiges Konzept verändern.
Die große Herausforderung für moderner Muslime (und ihrer nicht-muslimischen Verbündeten) ist es, die Ablehnung des Jihad herbeizuführen – und zwar nicht erst übermorgen. Und, da fundamentalistische Banden ohnehin wieder einmal mobil machen gegen westliche Ergebnisse der Aufklärung – sapere aude, wage zu wissen – sollen die vom „Heiligen Vater“ wie auch immer von ihm verstanden werden sollenden Zitate, die vorgeblichen Zorn auf IHN fallen läßt. Mag Benedikt doch einfach mal sagen, was er wirklich denkt. Die Gefühle von Fundamentalisten zu verletzen, das muß schon mal in Kauf genommen werden dürfen. Um der Wahrheit willen. Auch, und gerade von einem Papst … got
David Cook
„Understanding Jihad“ 269 Seiten
Verlag University of California Press (Mai 2006)
ISBN: 0520244486