Ungebremster Datendrang
Am 1. September 1981 werden in in Tageszeitungen verbreiteten Kleinanzeigejn: „Komputerfrieks“ gesucht. Gemeinsam mit den Unterzeichnern Tom Twiddlebit und einem gewissen Wau Wolf Ungenannt treffen sich am 12. September eine Handvoll Leute in der Berliner Wattstraße. Am Redaktionstisch – der ovalen ehemaligen Tafel der Kommune I – wird der Chaos Computer Club (CCC) gegründet.
Inernationale Netzwerke
Mit erstaunlicher Weitsicht spannt man den Themenfächer auf: „Wir reden über internationale Netzwerke – Kommunikationsrecht – Datenrecht (Wem gehören meine Daten?) – Copyright – Informations- u. Lernsysteme – Datenbanken – Encryption – Komputerspiele – Programmiersprachen … und was auch immer.ö Twiddlebit, bürgerlich Klaus Schleisiek, und Wau Holland alias Herwart Holland-Moritz ziehen nach Hamburg. Man pflegt eine kontroverse Diskussionskultur und die bei Bastlern traditionelle freigiebige Hilfsbereitschaft.
„Datenfernübertragung“ mittels Mietmodem
Mit dem CCC entsteht ein Spielraum im eigentlichen Sinn des Wortes. Was heute Onlinesein ist, heißt damals „Datenfernübertragung“ (DFÜ) und ist ein ziemliches Abenteuer. Wer nicht das teure Miet-Modem der Deutschen Bundespost benutzt, riskiert die Beschlagnahme seines Equipments. Computer – in Deutschland liegen düstere Schatten auf dieser modernsten aller Maschinen. Das Bild des Computers hat sich durch die von BKA-Präsident Horst Herold zur RAF-Jagd entwickelte Rasterfahndung in etwas Diabolisches verwandelt. Die Aktivisten des CCC halten nichts von technologischer Duldungsstarre und machen sich neugierig an die Erkundung der digitalen Welt.
Hacker hacken Sparkassen und geben die Knete zurück
In der Nacht auf den 18. November 1984 hackt der CCC das von der Deutschen Bundespost betriebene Bildschirmtext-System BTX. Ein überlaufender Seitenspeicher erlaubt es den Hackern, von einem Nutzerkonto der Hamburger Sparkasse stundenlang automatisch die Spendenseite des CCC aufzurufen. Die aufgelaufenen 135 000 D-Mark weisen die Hacker zurück und gehen an die Öffentlichkeit. Sparkassen-Vorstand Benno Schölermann zeigt sich erschüttert: „Die Post hat versichert, daß BTX sicher ist – das war falsch.“ Über die Hacker sagt er: „Alle Hochachtung vor der Tüchtigkeit dieser Leute.“
Ende des Jahres findet im Eidelstädter Bürgerhaus in Hamburg der 1. Chaos Communication Congress statt, Motto „Offene Netze – Warum?ö. Die „Hackerbibel I“ veröffentlicht unter anderem eine Bauanleitung für ein „Datenklo“ – ein Selbstbau-Modem. Seinen Namen hat das Ding von der Gummimanschette, in die man den Telefonhörer stopft, ein Verbindungsstück für Abwasserrohre aus dem Sanitärfachhandel.
Im selben Jahr darf sich der Wappenspruch des CCC „Alle Information muss frei sein“ erstmals vor Gericht beweisen. Auf den BTX-Seiten des Clubs ist unter anderem ein Auszug aus der Dissertation „Penisverletzungen bei Masturbation mit Staubsaugern“ von Michael Alschibaja Theimuras zu lesen. Da ein Sauger der Firma Vorwerk einschlägige Verletzungen verursacht, sieht sich das Unternehmen geschädigt und verklagt den CCC auf 500 000 D-Mark Schadensersatz; von der Bundespost verlangt die Firma die Sperrung der BTX-Seite. Erst als sich herausstellt, daß es sich nicht um eine bizarre Phantasiegeschichte handelt und der Doktorvater sowie ein Betroffener vorstellig werden, zieht die Firma die Klage zurück.
NASA – Rechner unter Kontrolle gebracht
Am 15. September 1987 macht das TV-Magazin Panorama bekannt, daß Hacker aus dem Umfeld des Chaos Computer Clubs über 100 Rechenzentren in einem von Nasa und Esa betriebenen internationalen Netz heimlich unter ihre Kontrolle gebracht haben. Der Superhack übertrifft alle Befürchtungen der Experten. Der Versuch von ein paar Jungs, auch am Netz teilnehmen zu wollen, endet in einer internationalen Polizeiaktion. Als den Hackern die Situation über den Kopf zu wachsen droht, wenden sie sich an den CCC, der nach längerer Diskussion Kontakt mit dem Verfassungsschutz aufnimmt. Der Verfassungsschutz aber fühlt sich nicht zuständig. Das Kernforschungszentrum CERN in Genf und die französische Niederlassung von Philips stellen Strafanzeige unter anderem wegen Betriebsstörung und Industriespionage. Bei den Mitgliedern des Vereinsvorstands – der CCC ist inzwischen ein eingetragener Verein – finden Hausdurchsuchungen statt.
„Öffentliche Daten nützen- private Daten schützen“
Während der Club noch um Schadensbegrenzung bemüht ist und die Prinzipien der Hackerethik hochhält („Öffentliche Daten nützen, private Daten schützen“), stellt sich heraus, daß zwei der am Nasa-Hack Beteiligten ihre Erkenntnisse in Ost-Berlin an den KGB verkauft haben. Es ist die Vertreibung aus dem Hackerparadies. Im Sommer 1988 offenbaren die beiden sich den Behörden. Einer von ihnen, der junge Karl Koch, kommt mit seinem Leben nicht mehr klar. Im Juni 1989 wird seine verbrannte Leiche in einem Wald bei Hannover gefunden.
1990 findet im Ostberliner „Haus der jungen Talente“ gemeinsam mit dem dortigen Computer Club eine Wiedervereinigung der Bits statt – „KoKon“, der „Kommunikationskongress“. Eine CCC Berlin wird gegründet, als Clubraum ergattert man eine ehemalige Schreinerei in einem Hinterhof in Berlins neuer Mitte. 1993, nur sechs Jahre nach Bekanntwerden des Nasa-Hacks, hat sich eine Umwertung der Werte vollzogen: Das Internet gerät explosionsartig ins Interesse der Öffentlichkeit – und der Wirtschaft.
Alle wollen heute ins Netz gehen …
Nun ist es plötzlich erste Bürgerpflicht, ins Netz zu gehen, um den verheißungsvollen Multimilliardenmarkt richtig in Schwung zu bringen.
Im Juli 2001 stirbt Wau Holland, der Gründer und Doyen des Chaos Computer Clubs, an den Folgen eines Schlaganfalls. Als Tribut feiert der CCC sein 20-jähriges Bestehen mit einem großen Hack: Das leerstehende, achtgeschossige Haus des Lehrers am Alexanderplatz wird in den größten Bildschirm der Welt verwandelt – „Blinkenlights“ erlaubt es, per Computer oder Mobiltelefon Animationen und Grafiken über die Hausfassade laufen zu lassen. Berlin ist begeistert, Kylie Minogue klaut die Idee für einen Videoclip.
Während des New Economy-Booms scheint der ethische Anspruch der Computer-Enthusiasten als eine abgelebte Art des Idealismus fast schon abgehakt. Nach den Ereignissen des 11. September ändert sich das Bild schlagartig. Fragen von Computersicherheit und elektronischer Überwachung stehen wieder ganz vorn auf der Tagesordnung.
Chaos-Expertise inzwischen allüberall gefragtgefragt.
Der CCC ist nach wie vor fruchtbarer und inspirierender Spielraum, bundesweit in „Dezentralen“ und Chaos-Treffs organisiert. Natürlich ist er auch in der Lobbyliste des Deutschen Bundestags eingetragen. Chaos-Expertise ist inzwischen auch in parlamentarischen Ausschüssen gefragt. Ein CCC-Sprecher war einer der Direktoren der Internet-Organisation ICANN. Ein anderen CCC-Fachmann stand dem UN-Waffeninspektor Hans Blix im Irak zur Seite.
Karl Kraus schreibt: „Es gibt nur eine Möglichkeit, sich vor der Maschine zu retten. Das ist, sie zu benützen.“ Je länger wir mit der Technologie umgehen, desto mehr entdecken wir, was sie nicht kann. Und aus der Fehlerhaftigkeit und den Schwächen der Computerwelt vermittelt der CCC der Nichtmaschine Mensch ein lebendiges Gefühl von Souveränität.
Milan