Maikäfer flieg Der Vater ist im Krieg Die Mutter ist im Pommerland. Pommerland ist abgebrannt Maikäfer flieg
Ich bin genau vor drei Wochen in B. angekommen. Die erste Woche geriet ich immerfort in Verlegenheit bei der Frage: wie finden Sie Berlin? Weil diese Frage die Antwort vorausnahm, ich fände es bestürzend verändert. Ich schämte mich zu gestehen, dass ich, durch zahllose Bilder und Zeitungsberichte vorbereitet, mir ungefähr das vorgestellt hatte, was ich jetzt sah.

Zertrümmert die äussere Stadt – zertrümmert die innere Vorstellungswelt der Bewohner – der Tiergarten Brachland rechts und links der Chaussee, die Schrebergärtchen geschmückt mit einzelnen Resten von Prachtmonumenten, gekrönten Häuptern und all den Bruchstücken, die so hässlich sind wie die unversehrten Statuen waren, – die einzelnen normalen Wohnungen von Freunden, die in den Ruinen zauberhaft wirken, doch mühselig, zäh und fleissig in monatelanger Arbeit aus den Trümmern entrungen wurden mit Bad und Heizung – ich glaube, man nennt diese Eigenschaft „Arbeitsmoral“ – sie ist von Hitler entweiht, aber nicht vertilgt worden, man trifft sie in Stadt und Land, wo aus dem Nichts eine Werkstatt, eine ganze Fabrik neu entsteht, – das neu zu entdecken bedarf es keiner ganz kühnen Phantasie; ausgehungerte Menschen, die ein letztes Bettuch verkaufen, weil ein Brot auf dem schwarzen Markt einen Wochenlohn kostet und niemand nur durch Brotkarten satt wird, einzelne privilegierte Menschen, die offenbar satt und gut gekleidet sind – meine mässige Phantasie hatte sich immer die Welt so vorgestellt, dass es darin Hungrige und Satte gibt – warum es sie hier und jetzt gibt, erfuhr ich viel später.

Ich wusste im Voraus wie jeder es weiss, dass diese Stadt in vier Sektoren eingeteilt ist wie das ganze Land in vier Besatzungszonen. Sich vorzustellen, dass die vier Alliierten verschiedene Staatsformen, Gewohnheiten und Ansprüche haben, dazu bedarf es auch keiner kühnen Phantasie. All ihre Symbole, all ihre Werbungen, all ihre Ideologien prasseln in geistiger und substanzieller Form auf die ohnedies verstörte Berliner Bevölkerung nieder, die an den kargen Sand der Mark Brandenburg gewöhnt ist.
Ich schämte mich also die erste Woche,
weil ich nicht überrascht war. Die zweite
Woche war ich sehr überrascht.
Aber jetzt fragte mich niemand warum? Ich hatte z.B. immer geglaubt, ich wüsste genau, was ein Nazi ist, was ein Dieb ist, was ein ehrlicher Mann ist. Das war aber nur meine Einbildung. Z.B. mein Hauswirt. Ist er ein Nazi? Ist er ein Demokrat? Ist er ein Dieb? Ist er ehrlich? Ich weiss es noch immer nicht. Ich weiss nur, dass die vier Alliierten wenigstens in einem Punkt alle vier seinem Bedürfnis entgegen kommen: Sich oft nach allen vier Himmelsrichtungen zu verbeugen.
Sonst kann er die Unordnung durch die Besatzung nicht leiden, was verständlich ist. Die Russen sind am äussersten Rand der Erschöpfung angekommen, wie eben Soldaten ankommen, die sich von Stalingrad bis Berlin durchkämpften, ihre eigenen Dörfer unterwegs verwüstet, ihre Familien erschlagen fanden, und noch um das letzte Haus in der Stadt kämpfen mussten. Um meinem Hauswirt gerecht zu sein, er ist auch nicht besonders von den Amerikanern begeistert, die, auch nicht als Luxusreisende, von New York nach Berlin kamen.
„In meiner Einheit“, sagt er, „war immer bessere Ordnung.“ Er hat sie als Offizier nach Holland geführt, durch Belgien nach Frankreich. – Ob nicht ein gewisser Unterschied sei zwischen der Besetzung von Amsterdam und Berlin? Ich bin auf Achselzucken gefasst, auf spöttische Antwort, auf Naziargumente, auf „Krieg ist Krieg“. – Die Antwort ist aber viel sonderbarer: „Sie meinen also, das wären zwei verschiedene Besetzungen? Der Gedanke ist mir noch nie gekommen. Darüber muss ich erst nachdenken.“
Wann wird denn der Bäcker anfangen nachzudenken, der zehn Jahre lang vor seiner Bäckerei ein Schild hängen liess, das ihn vor seinen Kunden als Mitglied der NSDAP auswies, und nach dem Einmarsch der Russen ein neues mit Blumen umranktes Schild anbrachte: „Es lebe der Bolschewismus“. Ich hörte in dieser Woche zu prahlen auf, dass ich mir alles ungefähr vorgestellt hatte. Ich hatte mir garnichts vorgestellt und ich war traurig. Ich war traurig, weil meine Sprache deutsch ist. Weil ich in dieser Kultur und Sprache gross wurde. Ich war auch traurig vor allem, weil der Friede, den wir alle heiss wünschen, durch solche Bäcker empfindlicher bedroht wird als [durch] die leidenschaftlichsten Parteinehmer.
Ich fing langsam an zu unterscheiden, unter welcher „Lizenz“ welche Zeitung erschien. Die Berliner haben durchaus ihren Spass an den vielen Zeitungen. Für sie ist ja neu, was für uns ein altes Vergnügen ist: Das Vorhandensein von Zeitungen verschiedener politischer Meinung.
Ich hatte auch, als die zweite Woche zu Ende ging, zahlreiche öffentliche und private Empfänge, Zusammensein mit alten und neuen Freunden in allen Sektoren passiert. Sie unterscheiden sich für das Auge im selben Grad, wie die Mutterländer vom Krieg berührt wurden. Ein gedeckter Tisch muss etwas andres für eine Majorsfrau aus dem Westen bedeuten als für eine russische Majorsfrau, die bei der Belagerung von Leningrad ihr eignes Kind langsam vor Hunger sterben sah.
Ich war inzwischen so eingemeindet, dass ich (in) all dem Wirrwarr wie alle Menschen nach einem festen Punkt suchte. Denn Wirrwarr ist es, nicht Widerspruch, was am meisten beunruhigt. Man weiss, wie man einem Nazi begegnen soll. Wie soll man aber einem Demokraten begegnen, der eine Stunde lang in einer Frage brav seinen demokratischen Standpunkt vertreten hat, und wenn man allein mit ihm heimgeht, plötzlich von Lebensraum faselt, von verjudeter Gesinnung, von vernegerten Franzosen? Und wenn man ihn zur Rede stellt, sich entschuldigt, man sei so lange mit diesen Begriffen gefüttert worden, man könne sie nicht so schnell abstreifen.
Ich suchte nach Menschen, die sich erst gar nicht hatten füttern lassen; die diese Nahrung von vornherein verweigert hatten. Ich stiess auf Freunde, die ich vor vielen und vor wenigen Jahren gekannt hatte. In ihren Augen das alte Licht. Wenn ihre Gesichter auch sonst zerrüttet waren von langer Emigration, von Zuchthäusern und Konzentrationslager, von bereits empfangenen, durch den Einmarsch der Aliierten vereitelten Todesurteilen.
Ich stosse auf meine Freundin N., deren Mann, ein Berliner Arbeiter, in einer völlig zertrümmerten Strasse, in einem ausgebrannten Haus, für sich und seine Familie ein Loch gefunden und in eine komfortable Wohnung verwandelt hat, die hoffentlich nicht eines Tages über ihnen zusammenbricht, mit ihren Lampen aus Eisenresten, mit ihren Heizröhren aus 100 Metallteilchen. Er hat aus der Not eine Tugend gemacht und sich als Beruf auf „Verwertung von Trümmern“ verlegt.
Das könnte auch etwas von „deutscher Arbeitsmoral“ sein, dieser Tugend im Dienst von Engel und Teufel. Er aber, er hat seine Arbeitskraft nie in den Dienst von beliebigen Herrn gestellt. Er hat ganze jüdische Familien vor dem Abtransport gerettet und in dieser Wohnung versteckt, sogar Kranke, sogar Sterbende. So war es ein Glück geworden, dass er diese vier Wände den Trümmern abgerungen hatte. Es war auch ein Glück geworden, dasser sich durch Arbeitseifer und Zähigkeit das Ansehen der Nachbarn verschafft hatte, – sie waren dadurch weniger [misstrauisch].
Die letzten Tage kamen Menschen aus ganz verschiedenen Widerstandsgruppen in mein Zimmer. Ein Arzt traf einen jungen Arbeiter wieder, der vor Jahren in seiner Sprechstunde aufgetaucht war. Er hatte damals sogar geahnt, wer der andere war. Er fragte ihn jetzt erst in meinem Zimmer: „Warum sind Sie nie mehr zu mir gekommen?“ – „Weil wir damals, nach so viel schlechten Erfahrungen niemand trauten.“ – „Ich sagte Ihnen beim Abschied: Lassen Sie sich doch noch einmal sehn, auch wenn Sie gesund sind.“ – „Ich wusste aber nichts über Sie. Ich fühlte mich nicht sicher.“
Warum die Vorsicht während der Hitlerzeit geboten war, ist oft erklärt worden. Das enge, schon vor Hitlers Machtantritt vorbereitete Polizeinetz hatte Spitzel bis in die Leitungen von Widerstandsgruppen geschoben und Heere von Angebern abgerichtet. Um ein solches Netz fertig zu bringen, dazu war die direkte oder indirekte Hilfe eines grossen Teils der Bevölkerung nötig. Es kommt mir ebenso falsch vor, daran zu zweifeln, dass es Widerstand in Deutschland gegeben hat, wie es falsch wäre, daran zu zweifeln, dass dieser Widerstand grausam zersplittert, grausam isoliert war. Seine Kraft reichte weder dazu aus, die Massenabschlachtungen noch Hinrichtungen zu verhindern. Auch nicht eine Resonanz in den Volksmassen zu erwecken, sodass immer wieder neue Widerstandselemente an Stelle der Vernichteten traten, wie das in Spanien und anderswo nicht nur in der jüngsten Zeit sondern seit 150 Jahren geschieht.
Wenn man sich also nicht zu erstaunen braucht, dass die Widerstandsgruppen zur Hitlerzeit keinen Kontakt fanden, erstaunt man sich doch, dass einzelne Vertreter dieser Gruppen so kurz nach dem Sturz Hitlers sich zum ersten Mal nur durch Zufall kennenlernen. Der Freund, den ich verzweifelt suchte, um seine letzte Spur schliesslich auf einem Todesurteil zu finden, kam dadurch zu Fall, dass er kurz nach dem Machtantritt Hitlers auf Jahre ins Zuchthaus geriet. Der andere Freund entging dem Schlimmsten durch Schlauheit und glückliche Zufälle, obwohl er die Judenverfolgung sofort mit Verstecken von Flüchtlingen, mit allen möglichen individuellen Hilfeleistungen beantwortete.
Viele haben vom ersten bis zum letzten Tag Hitler geheim und offen bekämpft. Andre traten zögernd mit allerhand Für und Wider auf, sie wurden entschieden, als der Hitlerfaschismus krasse und sichtbare Formen annahm. Sie bekämpften ihn entschlossen, als es ihnen ganz klar war, dass er zu einem verlorenen Krieg führte. Das Komplott vom 20. Juli war isoliert vom Volk, weil es sich, wenn es gelungen wäre, gar nicht auf das Volk hätte stützen wollen. Dieser Widerstand gegen Hitler spiegelt trotz seiner Isoliertheit ein breites Gefühl wieder: Was man Hitler vor allem nicht verzeiht, dass er den Krieg verloren hat.
Wenn man mich jetzt, nach der dritten Woche noch einmal fragen würde, wie finden Sie Berlin?, ich müsste mit noch tieferer Beschämung gestehen, dass ich es nicht so tief verändert finde, wie ich hoffte und fürchtete. Was vor und durch Hitler zu keiner kompakten Einheit wurde, das fällt bestürzend in seine einzelnen Bestandteile auseinander.
Ich finde die unversehrte Kraft in den alten Freunden wieder, die Konzentrationslagern und allen Verfolgungen entkommen sind. Den festen Willen alles zu tun, dass dieses unglückselige Land nicht noch einmal ein Schlachtfeld in Europa wird. Ich finde die Torheit wieder von Männern und Frauen, deren Möbel und Kleider von Bombardements verschont blieben und [die] nichts aber nichts dazu gelernt haben. Ich finde die Vögel in Mauerresten wieder und Flieder und lange entbehrte Maikäfer. Ich passe auf, ob die Kinder noch das uralte Lied singen, das gestern gedichtet sein könnte:
Anna Seghers: „Hier im Volk der kalten Herzen. Briefwechsel 1947“
Herausgegeben von Christel Berger.
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin;
288 Seiten; 17,90 Mark.
© Aufbau Taschenbuch Verlag GmbH, Berlin 2000.

Aug. 2000 | Allgemein, Buchempfehlungen, Feuilleton | Kommentieren