Am 30. Juni 2010 ab 21.23 Uhr konnten Sie hier in der Rundschau diesen Artikel lesen – „Wulff im Schafspelz“ haben wir des baldigen Rücktritts des Bundespräsidenten wegen hierher aktualisiert:
Eine dumpf-machtorientierte Bundeskanzlerin hat ihren Kandidaten als den der Koalition durchgepaukt – „nach einem langen Tag für alle Beteiligten“. Es war in der Tat nicht zu erwarten, dass „DIE LINKE“ über ihren Schatten zu springen in der Lage gewesen sein würde und jemanden wählte, der mit der stalinistischen Stasi-Bande in der DDR aufgeräumt hat. Was zu beweisen war – und noch im Nachhinein ein zumindest merkwürdiges Licht auf die Protagonisten wirft. Mitglieder der Bürgerrechtsbewegung hätten keine vorgeblichen Skrupel haben müssen, hätten Gauck – mit, eingeräumt, einigen Wenn und Aber – wählen können …Gesine Schwan hat sich ja wenige Tage vor der letzten Wahl, wo sie zur Bundespräsidentin kandidierte, nicht entblödet, lautstark zu verkünden, die DDR sei kein Unrechtsstaat gewesen, um sich damit den LINKEn anzudienen. Das war von Gauck nicht zu erwarten und das ist auch gut so. Hätte es jemanden wie Gauck in der Adenauerära gegeben, dann wären all die Globkes und anderen Piefkes nicht in Amt und Würden gekommen sein, was die LINKE ja – hätte es sie denn damals schon gegeben – mit Sicherheit gefordert haben würde. Oder? Nun ham wa also Wulff, hinter dem „eine große Mehrheit im Land steht“ (Angela Merkel am Wahltag um 21.45 Uhr im Ersten Deutschen Fernsehen). Mehrheit in der Versammlung, leider ja. Mehrheit im Land, dies zu verlautbaren grenzt an Volksverblödung, Mm Kanzlerin.
Alsdann, wen haben die Machtarythmetiker da ins Amt gehoben?
Christian Wulff sitzt – nur mal eben zum Beispiel -in der evangelikalen Missionsbewegung Prochrist im Kuratorium. Seitdem wird auf humanistischen und Freidenkerforen angeregt diskutiert. Zum Beispiel bei wissenrockt.de.
Die Kollegen von Presse, Rundfunk und Fernsehen haben das Thema so gut wie überhaupt nicht aufgegriffen. Ist das alles wirklich so nebensächlich? Ist es nicht!
Prochrist, heißt es in einem sehr PR-mäßig klingenden Wikipedia-Artikel zur Organisation, „ist eine Großevangelisationsveranstaltung, die seit 1993 im zwei- bzw. dreijährigen Turnus per synchroner Satellitenübertragung in Europa stattfindet. Sie wird von Mitgliedern evangelischer Freikirchen und Landeskirchen getragen. Ziel der Veranstaltung ist die Bekehrung von Menschen zum Glauben an Jesus Christus.“
Das auf der Website von Prochrist formulierte „Leitbild“ der Organisation klingt zunächst recht unverbindlich: „Prochrist möchte die Gute Nachricht zu Menschen aller Nationen bringen, hier in Deutschland und darüber hinaus in Europa.“ Prochrist arbeitet dafür offensichtlich sehr gern mit Kirchengemeinden der Amtskirchen zusammen: „Prochrist wird fortgesetzt, solange Gott diesen Dienst bestätigt, indem Menschen durch diese Arbeit das Evangelium hören und zum Glauben an Jesus Christus kommen, und solange christliche Gemeinden Prochrist als Hilfe für ihren missionarischen Dienst annehmen.“
Woran genau „Prochrist“ sonst noch glaubt, ist auf dieser Website zwar nicht festzustellen, aber durch einige Recherchen, auch in den bekannten Medien der evangelikalen Bewegung in Deutschland leicht herauszufinden.
Leiter und charismatische Figur von Prochrist ist der Fernsehprediger und evangelische Pfarrer Ulrich Parzany. Man kann seine Predigten auf Bibel TV sehen, findet sie ordentlich aufgereiht beim evangelikalen Sender ERF und auch bei Youtube. Auch in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und anderen Gotteshäusern überbringt er die gute Nachricht.
Parzany ist ein versierter Rhetoriker. In Predigten, wo es um das Werben neuer Gläubiger geht, umgeht er die neuralgischen Punkte der evangelikalen Ideologie eher. Klarer artikuliert er sie in Artikeln der evangelikalen Zeitschrift ideaSpektrum.
Was er in der Nummer 7/2008 von ideaSpektrum schreibt, klingt wie ein Bekenntnis zum Kreationismus: „Die aggressiven Reaktionen selbst auf die vorsichtigsten Versuche, die Evolutionstheorie als Theorie und nicht als allein wahres Dogma zu verstehen, zeigen, dass hier ein wunder Punkt getroffen wurde. An Gott, den Schöpfer, darf man offensichtlich nur glauben, wenn man zugleich augenzwinkernd zu verstehen gibt, dass dieser Glaube nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat, sondern in das Reich der Märchen gehört.“
Parzany wendet sich auch gegen „praktizierte Homosexualität“ und vertritt, wie viele evangelikale Christen die Theorie, dass Homosexualität gewissermaßen heilbar sei. „Selbstverständlich gibt es Fachleute, die die Möglichkeit sehen, dass Menschen ihre homosexuelle Neigung verändern und dass da Hilfe möglich ist“, sagte er in einem Streitgespräch mit dem Grünen-Politiker Volker Beck, das in IdeaSpektrum und auf der Website von Beck veröffentlicht ist.
Urlich Parzany glaubt an seine Botschaften. Er wird Prochrist nicht betreiben, um nicht auch andere Zweifler und Stauner von ihnen zu überzeugen.
Wie mächtig die Evangelikalen in Deutschland längst schon sind, ist in der Öffentlichkeit kaum bekannt.
Die beiden Journalisten Christian Baars und Oda Lambrecht haben ein alarmierendes und bestens belegtes Buch darüber geschrieben: „Mission Gottesreich – Fundamentalistische Christen in Deutschland“ (Christoph Links Verlag, 2009). Sie führen auch ein kontinuierliches Blog zum Thema.
– 1,3 Millionen Gläubige werden dieser Glaubensrichtung in Deutschland zugerechnet. Das ist keine kleine Minderheit. Und natürlich ist sie besonders aktiv und engagiert in den Kirchen. Ein großer Teil der sonntäglichen Gottesdienstbesucher der evangelischen Kirche ist dieser Richtung zuzurechnen.
– Die Evangelikalen lehnen „praktizierte“ Homosexualität und Abtreibung ab, sehen häufig die „Schöpfungstheorie“ als Alternative zur Evolutionstheorie, und sie möchten auch Juden und Muslime bekehren.
– Sie betreiben in Deutschland etwa achtzig anerkannte Schulen, deren Lehrer vom Staat finanziert werden und deren Biologielehrer nicht zu den überzeugtesten Darwin-Anhängern gehören dürften – der Staat, so Oda Lambrecht und Christian Baars, kontrolliert hier offenbar mehr als nachlässig.
– Sie sind in Politik und Medien bestens vernetzt, bilden Journalisten aus und verfügen selbst über durchaus – was Wunder – professionell und ansprechend gemachte Medien in Print, TV und Internet.
Die niedersächsische Staatskanzlei bestätigt auf Nachfrage, die Mitgliedschaft Wulffs (der selbst Katholik ist) im Kuratorium von Prochrist: „Das ist richtig. Der Niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff hat im Februar 2005 u.a. seine Bereitschaft zur Mitwirkung im Kuratorium von Prochrist für das Jahr 2006 erklärt, weil diesem auch der damalige EKD Ratsvorsitzende Bischof Wolfgang Huber (wie doch ein Amt einen Menschen zu ändern in der Lage ist. Dass wir Huber zu Beginn seiner Amtszeit als Landesbischof lobten, änderte sich, nachdem er als EKD-Ratsvorsitzender fundamentalistisch – zum Beispiel über Abtreibung – argumentierte.“
Und natürlich darin, seinen guten Namen, die Respektabilität seiner Person und seines Amtes für die Sache von Prochrist herzugeben. Der Hinweis auf Bischof Wolfgang Huber macht es schon deutlich: Wulff ist hier keineswegs allein. Huber zeigte sich gegen Ende seiner Amtszeit immer begeisterter von den Evangelikalen, die so virtuos zu mobilisieren zu verstehen und möglicherweise auch der Amtskirche Auftrieb geben – gerade darin scheint ja eines der Angebote von Prochrist zu bestehen.
Im Kuratorium sitzen laut Selbstauskunft von Prochrist außerdem noch: der ehemalige bayerische Ministerpräsident Günther Beckstein, der Kaufmann Alexander Graf zu Castell-Castell, der ZDF-Moderator Peter Hahne, der Schuhfabrikant Heinz-Horst Deichmann, der Golfspieler Bernhard Langer, der ehemalige Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg Erwin Teufel, der SPD-Politiker Hans-Jochen Vogel und einige Kirchenobere.
Um es klar zu sagen: Evangelikale Christen dürfen glauben, was sie glauben. Sie dürfen Homosexualität ablehnen, sie dürfen gegen Abtreibung demonstrieren, sie dürfen glauben, dass die Welt eine Schöpfung ist.
Allerdings: Wie genau verläuft das Leben eines Jungen, der in evangelikalem Milieu aufwächst und schwul ist? Wie sehr wird er verbogen? Wie sehr wird er versuchen, sich selbst zu verbiegen? Und dürfen Schulkinder mit fabrizierten Alternativen zu naturwissenschaftlichen Erkenntnissen gefüttert werden?
Prochrist ist ohne Parzany nicht zu haben. „Das Programm besteht aus Musik, Interviews, Theater und einem Vortrag von Ulrich Parzany zu zentralen Themen des Lebens und des Glaubens. Der Eintritt ist frei. Sie sind herzlich zu den Abenden eingeladen“, steht im Konzept von Prochrist 2009.
Parzany hat keine Scheu sich zu bekennen: „Auch wenn uns diese Freiheit nicht zugestanden wird, werden wir Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ (ideaSpektrum 7/2008) Es klingt wie ein fundamentalistisches Programm, das sich zur Not auch über die Gesetze des Gemeinwesens hinwegsetzen würde.
Auch das soll Parzany noch denken dürfen. Demokratie verträgt sogar den Widerspruch gegen sich selbst, solange er auf Gewalt verzichtet und die Rechte anderer nicht beschädigt.
Aber brauchen wir einen Präsidenten, der im Kuratorium dieses Vereins sitzt?
Ist die Missionierung junger Leute im Sinne Parzanys der Unterstützung eines (seit einer Stunde: unseres!) Bundespräsidenten würdig? Haben wir mit Weihnachtsansprachen zu rechnen, die das segensreiche Wirken der Missionare preisen?
Wulffs christliches Engagement ist kürzlichauch im Hinblick auf die BP-Wahl im niedersächsischen Landtag diskutiert worden, ohne dass eine breitere Öffentlichkeit Notiz davon genommen hätte. Vorgeworfen wurde ihm eine Rede vor dem Arbeitskreis Christlicher Publizisten (ACP) in Bad Gandersheim, einer Organisation, die laut Sektenbeauftragten der evangelischen Kirchen als fundamentalistische Splittergruppe „am äußersten rechten Rand des Protestantismus“ (so NDRInfo) anzusehen ist. Anfragen von Abgeordneten wurden mit der lapidaren Ansage beschieden: „Der Ministerpräsident wird keine Veranstaltung von verfassungsfeindlichen Organisationen besuchen.“ Na ja, vielen Dank auch …
Das reicht jedendfalls nicht aus. In der Sendung „Farbe bekennen“ beschwor Christian Wulff „die Gefahr der Parallelgesellschaft, des Gegeneinanders, Gewalttätigen und Fundamentalistischen“, der er entgegentreten wolle. Mit den Evangelikalen, die sich selbst gern als „entschiedene Christen“ bezeichnen, geht das nun gerade nicht. Sie wollen wie gesagt Gesetzen, die sie als göttlich ansehen, mehr folgen als den Menschen, „auch wenn uns diese Freiheit nicht zugestanden wird“. Wulff hätte noch vor der Wahl in der Bundesversammlung aus dem Kuratorium von Prochrist auszutreten gehabt, er hielt das jedoch nicht für nötig – hat ja auch keiner gefragt.
30.Jun.2010, 22:31
Ministerpräsident Wulff ist nun Bundespräsident und das ist es, was unser Volk genau verdient. Er ist der Mann ohne Eigenschaften, der aber am Ende der Bundesversammlung einen respektablen Auftritt hingelegt hat. Chapeau!
Das Gleiche und noch etwas mehr gilt aber auch für Herrn Gauck, einen Mann mit Charisma, der etwas austrahlt, was Sympathie verdient. Jemand mit Ecken und Kanten! Aber Gauck ist, wenn ich da nicht falsch informiert bin, für den Afghanistan-Krieg und rechtfertigt auch Hartz IV. Das ist fatal. Und deshalb konnten viele Linke ihn nicht wählen.
Die Linkspartei hat überzeugend gezeigt, dass man einen Mann nicht küren sollte, der über pure Kanzlerin-Machtkalküle ins Amt gehoben wird. Unter anderem deshalb wollte sie Wulff nicht. Und mit Gauck konnte sie sich nicht anfreunden, weil auch der ein Konservativer ist, der allzu quer zu zentralen Programmpunkten der Linken liegt und sich natürlich auch nicht anbiedern wollte.
Wie sollte Gauck die vollen Stimmen einer Partei in einer demokratischen Wahl bekommen, der er zuletzt das Etikett „undemokratisch“ verliehen hat und der er nicht entgegengekommen ist. Sollten „Undemokraten“ ihn wählen? Das hätte er dann hoffentlich selbst nicht gewollt.
Wie auch immer, das war die Quadratur des Kreises, die viele jetzt spüren – über die Linkspartei hinaus. Man spürt es wie das unglückliche Spiel gegen Serbien nach dem Rausschmiss von Klose. Eine kleine deutsche Tragik, um es pathetisch zu formulieren.
Aber nach Serbien kamen Ghana und England. Will auf lange Frist sagen: Die Weltmeisterschaft wäre gewonnen, wenn wir eines Tages den Bundespräsidenten selbst wählen könnten. Bis dahin sind es noch ein paar Jahre hin.
Und hören wir nochmal Gauck, was er uns als Botschaft vermitteln wollte, als der fast 10-stündige Wahltag sich dem Ende zuneigte. Sinngemäß sagte er: der Bürger solle bei dem Versuch nicht verzagen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Ein gutes Wort. Der Mann hat basisdemokratisches Bewusstsein. Kein Wunder, wenn man seine Vergangenheit mit bedenkt!
Ich möchte, dass der nächste Bundespräsident direkt gewählt wird. Bis dahin müssen wir uns mit dem WM-Sieg in Südafrika begnügen, wenn wir nicht gegen Maradona verlieren, was gut möglich ist. Aber das steht auf einem völlig anderen Blatt.
Beste Grüße
Fritz Feder