Diesen nachstehenden Zustandsbericht und eine Prognose über den Heidelberger Gemeinderat habe ich am 17. November 2009 veröffentlicht zu einer Zeit, da ich für den Mannheimer Morgen und die Rundschau Veranstaltungen dieses Gremiums abgesessen habe. Auch als Journalist habe ich nie geschafft und auch nicht gewollt, weg zu sehen, sondern bin seit vielen Jahren gegen oft von mir aufgedeckte Missstände dann in der Tat auch vorgegangen.  Nun erst mal mehr oder weniger viel Spaß beim Lesen dieser vor Wahrheit triefenden Polemik – die Wirklichkeit jedenfalls hat diesen Kommentar längst überholt:

Ja, vor der Wahl ist nicht nur in Europa, sondern auch in Heidelberg nicht nach der Wahl. In Kenntnis von in den Heidelberger Gemeinderat gewählten Personen, Problemen und Sachverhalten wagen wir eine gewagte Prognose – jede Polemik, meinen wir, trägt zur Aufklärung bei, auch wenn sie Empfindlichkeiten verletzt. Und, dieweil „Die Neuen“ (und, ich aktualisiere das jetzt am 25. Februar 2016,  es hat sich nichts geändert!) gerade ins Amt eingeführt wurden, schauen wir da mal etwas genauer hin:
Das Falsche des auch während vieler Sitzungen des Gremuims in der „alten“ Zusammensetzung bereits geübten Primats von Praxis wird sich – davon ist leider auszugehen – künftig noch stärker am Vorrang von Taktik über alles andere auszeichnen. Die Mittel haben sich ja bereits schon und werden sich immer mehr zum Äußersten verselbständigen.

Frechheit und Frivolität gedeihen hier gleichsam im Windschatten einer allenthalben grassierenden, unverfroren-abgestumpften zumal ideologisch-b(l)ockigen Dummheit.

Die Formulierung unserer Einschätzung mag zugespitzt, brüskierend und polemisch sein – wie ich zuweilen um einer Sache willen zu schreiben beliebe. Natürlich hat das oft auch etwas Jaulen (oder Ähnliches) ausgelöst. Begriffe sind aber keineswegs nur als polemische Etikette gemeint, sondern umschreiben in meinem Verständnis einen verbreiteten mentalen Sachverhalt, ja, geradezu eine Seinsweise. Dies soll hier näher ausgeführt werden:

Das Strickmuster unverfrorener Unverfrorenheit als Syndrom? Es kennzeichnet einen bestimmten Typus von Menschen sowie Zustände, die durch solche Menschen bestimmt werden. Unverfrorene Dummheit (die wir auch meinen) hat durchdringende Kraft. Wo sie an der Macht ist oder die Ordnungsdeutungen von Bevölkerungsgruppen dominiert, kann sie ganze Gesellschaften verwüsten. Woraus ist sie zusammengesetzt?

Ein Grundelement ist das Double-Bind, also Beziehungsfallen, in denen jede mögliche Reaktion negativ sanktioniert wird und der Betroffene die Zwickmühle weder durch Metakommunikation noch durch Verlassen des Handlungsfeldes auflösen kann. Ein bekanntes Beispiel ist das der Schwiegermutter, die der Frau ihres Sohnes zum Geburtstag zwei Pullover schenkt. Als sie einige Wochen später erneut ihren Besuch ankündigt, zieht die Schwiegertochter einen davon an. Noch vor der Begrüßung herrscht die Schwiegermutter sie an: »Der andere gefällt Dir wohl nicht!«

Die verselbständigten Mittel dienen reflexionslos den eigenen Zwecken – und werden sich diesen entfremden. Und bei der nächsten Gemeinderatswahl wird es ähnlich sein, wie bei dieser: Wer und warum – nur mal eben zum Beispiel – für den Verkauf des Emmertsgrundes an einen dubiosen Investor gestimmt hat, das alles spielt keine Rolle mehr, wenn hernach (wie jetzt gerade wieder gehabt) nur genug populistische Schlagworte ins Volk geworfen werden.

Dass in diesem Gemeinderat alles noch schlimmer werden könnte, wollte niemand so recht glauben. Endlos lange, fruchtlos sich über Abstimmungsergebnisse in (schließlich paritätisch besetzten) zum Ausschuss degradierten Ausschüssen hinwegsetzende Diskussionen haben wir nämlich dort ja seit Jahren in diesem Gremium, innerhalb welcher Taktik die Diskussion oft genug vollends zunichte gemacht hat.

Und, was aus Diskussionen hätte resultieren können, Beschlüsse nämlich von höherer Objektivität deshalb, weil  Intentionen und Argumente ineinandergreifen und sich durchdringen, interessierte auch bislang diejenigen nicht, welche automatisch, auch in ganz inadäquaten Situationen, Diskussionen wollten und künftig erstrecht wohl wollen werden. Jeweils dominierende Cliquen haben vorweg die von ihnen gewollten Ergebnisse parat. Die Diskussion diente oft genug der Manipulation, häufig wurde beinahe jedes Argument auf die Absicht zugeschnitten – unbekümmert ihrer Stichhaltigkeit.

Was der Kontrahent sagt, wird auch und erst recht künftig umso mehr kaum wahrgenommen; allenfalls, damit man mit Standardformeln dagegen aufwarten kann. Erfahrungen will man nicht machen, wofern man sie überhaupt machen kann. Wir werden weiterhin und erst recht in der „Neuen“ Zusammensetzung erleben, wie der Diskussionsgegner zur Funktion des jeweiligen Plans werden wird: verdinglicht von verdinglichtem Bewusstsein („malgré lui-même“ – Adorno) als Sprecher des Bannes. Entweder steckt vordergründig dahinter, dass man ihn  durch Diskussionstechnik und Solidaritätszwang zu etwas Verwertbarem bewegen, oder ihn vor den Anhängern diskreditieren will; oder es wird einfach aus dem Fenster hinausgeredet – der dies alles absitzenden Pressevertreter -, also der Publizität wegen, deren Gefangene sie sind. Wenn die gemeinderätlichen Protagonisten wüssten, wie das gerade von der Journaille wahrgenommen wird, würden die Protagonisten/Innen (!) dies uns hinlänglich bekannte Theater wohl sein lassen. Pseudoaktivität jedenfalls, auf die wir uns, nachdem uns die „Inhalte“ des Wahlkampfes einen Vorgeschmack serviert haben, nun werden einstellen müssen, vermag sich allenfalls am Leben zu erhalten durch unablässige Reklame. Gibt der Kontrahent nicht nach, so wird er disqualifiziert und des Mangels eben jener Eigenschaften bezichtigt, welche von der Diskussion vorausgesetzt würden. Und deren Begriff wird dann mehr oder weniger geschickt, aber doch immer „ungemein“ so zurechtgebogen, dass der Andere sich würde überzeugen lassen müssen; was die Diskussion dann endgültig zur Farce erniedrigt. Hinter diesen Techniken waltet ein autoritäres Prinzip: der Dissidierende müsse die Gruppenmeinung annehmen.

Unansprechbare projizieren die eigene Unansprechbarkeit auf den, welcher sich nicht will terrorisieren lassen.

Mit alledem fügt sich ein Aktionismus in den Trend ein, dem sich entgegenzustemmen er meint oder vorgibt: dem bürgerlichen Instrumentalismus, welcher die Mittel fetischisiert, weil seiner Art Praxis die Reflexion auf die Zwecke unerträglich  ist.

Vor dieser Gemeinderatswahl schon war abzusehen, dass das Zeitmaß „ein Heidel“ (fünf Jahre) wohl würde neu gedeutet werden müssen; was wir bislang erlebt haben, wird nun als eher (naja, vielleicht gerade noch) lustig gewesen zu sein in Erinnerung bleiben im Hinblick darauf, was von dieser neuen Rathausopposition um der Opposition willen die nächsten Jahre zu erwarten ist. Derweil können sich Wähler und nicht zur Wahl gegangene Heidelberger in die Augen schauen, sich die Hand geben und blauäugig in die Runde fragen: „Na, wie haben wir das nicht mal wieder hingekriegt? OB Würzner jedenfalls ist nicht zu beneiden, die Stadt (frei nach Ernst Bloch „Heidelberg ist ein Mekka des Geschwätzes“) wird unregierbar.

Jürgen Gottschling

Nov 2009 | Heidelberg, Allgemein, Feuilleton, In vino veritas, InfoTicker aktuell, Junge Rundschau, Politik, Sapere aude, Zeitgeschehen | 17 Kommentare