Lord Dahrendorf, Ihr Lebensthema ist die Freiheit, biographisch, emotional und intellektuell – so haben Sie es jedenfalls einmal formuliert. Nun erlebt die Freiheit gerade ein weltweites Fiasko: Die Marktwirtschaft in den westlichen Demokratien ist durch die globale Krise der Finanzmärkte erschüttert. Erschüttert das auch den liberalen Denker Dahrendorf?

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Lord Ralf Dahrendorf. Foto: Homepage

Zur Freiheit gehören die Krisen der Freiheit. Und dass die Freiheit des Marktes Regeln, braucht, habe ich immer vertreten. Der Finanzkapitalismus hatte sich zuletzt verselbständigt: für bestimmte Innovationen, die Spekulation auf Schulden oder Indexentwicklungen, hatte sich ein ungeregelter Handel entwickelt. Das war noch kein Markt – und es war auf Dauer so nicht durchzuhalten. Jetzt werden sich die verbleibenden Banken und Investmenthäuser Regeln suchen. Für diese neuartige Ökonomie wird ein Markt mit Regeln entstehen.

Was ist an dieser Ökonomie neu?

Die Globalisierung war im Finanzsektor vor allem eine Informationsrevolution. Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als Banker in der Londoner City zwischen 10 und 11 Uhr ins Büro kamen. Um halb eins gab’s den ersten Sherry, dann speiste man ausgiebig mit interessanten Leuten zu Mittag. Dann musste man noch im Büro bleiben, bis die Wallstreet aufmacht: mit fünf Stunden Zeitunterschied, also bis halb vier Uhr nachmittags. Danach fuhren alle nach Hause. Das hat sich total verändert. Eine permanente Informationsverfügbarkeit hat eine neue Art von Wirtschaftssubjekten geschaffen: Leute, die vierundzwanzig Stunden arbeiten und sich völlig kaputt machen. Zwischendurch wird sich zur Erholung betrunken, danach geht es wieder ins Büro, weil in Hongkong, an der Wallstreet oder wo auch immer ständig etwas passiert. Das ist eine faszinierende Entwicklung.

Ist es da nicht bedenklich, dass im Augenblick der Krise Politiker jeder Couleur jene Steuerungsmöglichkeiten versprechen – „Wir müssen zähmen! Wir müssen zügeln!“ -, von denen sie in den vergangenen Jahren selber behauptet haben, es gebe sie gar nicht mehr?

Es kommt drauf an, wie man die Steuerung angeht. Die einzigen, die mit der Krise fertig werden können, sind die Amerikaner. Sie sind viel radikaler als die Europäer. Die Europäer reden immer – und besonders gerne von Systemen: Man müsse das ganze System verändern, heißt es dann sofort. Da wird dann schnell das Ende des Kapitalismus ausgerufen oder die soziale Marktwirtschaft begraben. In Amerika wird jetzt stattdessen etwas getan. Und sie werden viel radikaler als alle Europäer sein, so wie Roosevelts „New Deal“-Antwort auf die Weltwirtschaftskrise in den dreißiger Jahren viel radikaler war als sämtliche Ideen der europäischen Sozialisten. Wahrscheinlich werden die Amerikaner zu weitgehende Maßnahmen ergreifen, die sie dann wieder rückgängig machen. Aber sie werden strategisch-punktuell handeln und dabei nicht über das System reden. In Europa hingegen wird man ausführlich debattieren und entweder Lafontainesche Systemkritik akzeptieren oder bekämpfen – ohne zu handeln. Jedenfalls werden die Europäer kaum das Richtige tun, weil hier nicht pragmatisch gedacht wird.

Könnte jetzt die Stunde der antikapitalistischen Linken schlagen?

Als Avantgarde wird sich die Linke nicht formieren können. Denn sie verteidigt den Status quo. Nehmen wir nur das kuriose hessische Beispiel in der Frage von Studiengebühren. Ein wirklicher Linker würde immer sagen: Wer studiert, wird wahrscheinlich im Laufe seines restlichen Lebens fünfzig Prozent mehr verdienen als jemand, der nicht studiert – daher gibt es keinen besonderen Grund, warum normale Steuerzahler aufkommen sollen für diese Reichen von morgen. Dennoch sind momentan in Hessen SPD, Grüne und Linke gegen Studiengebühren. Sie agieren als eine Art Bauernverband für Akademiker. Massive Status-quo-Verteidigung findet da statt: ihre Kinder sollen künftig nicht wieder durch irgendwelche Netze fallen. Ein Anwalt der Armen und Entrechteten ist solch eine Linke nicht; Zukunftsträchtiges kann man von dort nicht erwarten.
Von „Raubtierkapitalismus“ spricht aber auch der nicht gerade als linksradikal geltende Helmut Schmidt. Und aus allen Richtungen hört man Kritik an überhöhten Managergehältern und obszönen Abfindungen.

Wenn von Managermillionen die Rede ist: Warum fragt eigentlich niemand, was mit diesem Geld geschieht? Denn es liegt ja nicht unter irgendwelchen Matratzen herum. Die Millionen beschäftigen Menschen. Ob Manager Gemälde kaufen oder eine Yacht auf dem Mittelmeer haben, deren Besatzung permanent drauf wartet, dass der Besitzer kommt und drei Tage rumschippert: Das Geld arbeitet. Die Beschäftigten der Superreichen sind übrigens ein interessantes Thema für jede Klassenanalyse. Was sind das für Menschen, wie denken sie? Wo stehen sie eigentlich innerhalb der sich neu formierenden Gesellschaftsstrukturen?

Eine Deutung unserer Gesellschaft mit ihrer sozialen Ungleichheit und ihren Klassenstrukturen bietet der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler in seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“, von der er jüngst den fünften Band über die Zeit zwischen 1949 und 1990 vorgelegt hat. Sie haben das Buch gelesen – wie ist ihr Eindruck?

Wenn ich etwas an Wehlers Analysen von Ungleichheit kritisiere, dann seinen statischen Begriff von Klassen: Wehler redet wie ein amerikanischer Sozialwissenschaftler, der die „Schichten“ erfunden hat – ohne Sinn für die Dynamik. Das Entscheidende an der Klassentheorie ist doch, dass es manchmal in der Geschichte soziale Gruppen gibt, die auf einer zukunftsträchtigen Woge schwimmen. Sie bestimmen das Ganze neu und können daran von den Verteidiger des Status quo nicht gehindert werden. Das Interessante an diesen Gruppen ist also nicht, ob sie wenig, mittelmäßig oder sehr viel verdienen, ob sie Abitur haben oder nicht. Vielmehr sind das Gruppen, die die Zukunft gegen die Vergangenheit vertreten. Wehler spricht im Grunde von sozialen Schichten. Das ist aber ein langweiliges, weil statistisches, zu errechnendes Thema. So groß meine Achtung vor Wehlers Werk ist: Die Dynamik erfasst er nicht; seine Ungleichheit ist zu statisch.

Sie selbst haben die „globale Klasse“ entdeckt. Was macht diese international agierende Elite der Globalisierung, Unternehmer, Manager, Wissenschaftler, so erfolgreich?

In den letzten zwanzig Jahren haben die hochmobilen Angehörigen dieser globalen Klasse tatsächlich weltweit massiv gegen einen stark von Sicherheitsbedürfnissen geprägten Status quo agiert. Die tonangebenden Gruppen verändern sich und die Welt. Solche Klassendynamik wird aber in der deutschen Diskussion fast nie thematisiert. Oft wird übrigens die Dynamik von Strukturen der Ungleichheit falsch verstanden: Die meisten vermuten, dass die Armen eines Tages die Revolution machen. Das tun sie aber nicht, das weiß man spätestens seit Paul Lazarsfelds klassischer Studie „Die Arbeitlosen von Marienthal“.

Können politische Parteien heute noch ein solches Klassenbewusstsein organisieren?

Im Prinzip ja. Nur ist es heute sehr schwer, eine klassenbewusste Gruppe zu finden, denn es gibt die Individualisierung, die viele Klassenstrukturen auflöst. Dennoch soll man die globale Klasse nicht unterschätzen, auf der momentan alle wegen Finanzspekulationen, Bonuszahlungen und Managergehältern herumhacken. Sie hat tatsächlich viele Hindernisse weggeräumt in jener Ära, die von Margret Thatcher bis zur Agenda 2010 reicht. Aber eine Partei zu gründen ist für solche Individualisten einstweilen schwierig, zumal sie in ihrer Interessendurchsetzung mit Hilfe der traditionellen Parteien sehr erfolgreich waren. Klassenbewusstsein wird jedenfalls nicht bei jenen entstehen, die da sagen: „Wir sind die Opfer der Globalisierung. Und nun denkt mal an uns.“

Sie selbst haben als Mittdreißiger 1965 ein berühmtes Buch vorgelegt, das die deutsche Lage interpretierte: „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“, für Hans-Ulrich Wehler übrigens eine „großartige Analyse“ von „symptomatischem Rang“. Was hat den Soziologen Dahrendorf damals umgetrieben?

Die Soziologie ist nach 1945 aus einem Realitätsbedürfnis neu entstanden. Nach der ideologischen Epoche wollten wir die Wirklichkeit zu fassen bekommen – und das war damals für die meisten die Industrie. Also entstanden zahllose industriesoziologische Studien. Bei mir kam jedoch etwas anderes hinzu: mein frühes politisches Interesse. Ich hatte nach meinem Doktorexamen von 1952 bis 1954 an der London School of Economics studiert. Dort lag der Ursprung für meine Frage in „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“: Warum ist die deutsche Gesellschaft andere Wege gegangen als England? Ob das eine relevante Frage ist, bin ich mir heute nicht mehr so sicher wie damals. Damals war sie fruchtbar – heute würde ich keine große Theorie mehr daraus machen. Und ich glaube, dass historisch der englische Sonderweg mindestens genauso interessant ist wie der deutsche Sonderweg. Zumal dem deutschen Sonderweg viele gefolgt sind, dem englischen hingegen nicht.

Adorno und Horkheimer etablierten damals einen anderen Großentwurf von Gesellschaft: die kritische Theorie. Das war für Sie keine Verführung?

Das war nie relevant für mich. Ich verstehe sie auch bis heute nicht. Wo sind deren Ergebnisse? Ich höre immer „kritische Theorie“, aber ich sehe keine Produkte der kritischen Theorie.

Beruht der Nimbus der kritischen Theorie also weniger auf Werken sondern auf der Resonanz in der Öffentlichkeit?

Ganz sicher. Habermas wird dann gleichsam ausgeborgt von der Kritischen Theorie, weil es sonst niemanden gibt. Ich halte Jürgen Habermas mit einigem Abstand für den bedeutendsten sozialen Denker in Deutschland seit 1945. Wenn Sie aber seine Werke sehen, finden Sie dort nichts, was eine Kritische Theorie sein könnte. Sie finden einen hoch intelligenten, immer nachdenklichen Kritiker. Aber Kritische Theorie? Sein Name muss offenbar immer aufgeführt werden, damit auch nach Adorno ein bedeutender Mensch in diese Reihe kommt.

Und die Öffentlichkeit war so unkritisch, dass sie den Mangel an Kritik und Theorie in der Kritischen Theorie gar nicht bemerkte?

So ist das Leben, das ist nicht die Schuld der deutschen Öffentlichkeit. Soviel Theorie war bei uns übrigen Soziologen vielleicht auch nicht dahinter. Oder denken Sie an Paris, wo die angeblich große Theorie oft heiße Luft ist. Adorno hat immer witzig geschrieben, worüber man natürlich mit Recht geredet hat. Horkheimer war ein organisierender Machtmensch. Er hat nichts Bedeutendes verfasst.

1954 waren Sie selbst am Institut für Sozialforschung und haben nach einem Monat gekündigt. Adorno und Horkheimer interpretierten das als „stärksten Beweis“ dafür, „dass in einem strengen Sinn nach uns nicht kommt“.

Ich war aus England zurückgekommen und wollte mich über die Klassenfrage habilitieren, was Horkheimer aber nicht befürwortete. Und ich war zudem angestellt worden, um jemand anderen aus dem Institut zu drängen. Rasch war mir klar: Das ist kein Platz für mich. Bleibende Beziehungsschäden hat mein Weggang aber nicht gehabt. Adorno hat mich danach als hoffnungslosen Empiriker immer wieder gerne eingeladen.

Ein wesentliches Ziel Ihres Buches „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“ war es, die Deutschen und ihre Politiker an die Normalität von Konflikten in liberalen Gesellschaften zu gewöhnen. Seit der Spätphase der Ära Kohl hatte man manchmal den Eindruck, dass es einen neoliberalen Konsens gibt, der alle Konflikte erstickt. Haben die Deutschen Ihre damalige Lektion, jeweils auch die Alternativen zu diskutieren, verlernt?

Die Konfliktbereitschaft ist vielleicht doch stärker geworden als sie damals war; interessanterweise stößt die Große Koalition als Prinzip nicht wirklich auf öffentliche Zustimmung. Das war 1966 bis 1969 anders. Heute haben wir allerdings eine andere Koalitionssituation mit zwei verängstigten Volksparteien, die um ihre Basis fürchten müssen. Die vielbeklagte Politikverdrossenheit gibt es übrigens nicht generell, sondern nur in Bezug auf bestimmte Parteien. Das sieht man am Einzug der Freien Wähler in den Bayrischen Landtag: Die Wähler finden im herkömmlichen Angebot nicht das, was sie suchen. Generell glaube ich schon, dass die Konfliktfeindschaft nicht mehr so ausgeprägt ist wie in den sechziger Jahren.

Wenn gleichwohl in der Öffentlichkeit Konflikte verdrängt oder zugekleistert werden können: Ist das noch eine bestimmte deutsche intellektuelle Erblast, wie Sie damals gemeint haben?

Die Ursachen dafür liegen jedenfalls nicht in einer spezifisch deutschen Geschichte. Die deutschen Probleme sind heute sehr vergleichbar sind mit denen anderer Länder, wo sie sich unter anderen institutionellen Bedingungen sich etwas anders ausdrücken. In England sieht man dank des von mir befürworteten Mehrheitswahlrechts das Schrumpfen der Volksparteien nicht – in Wahrheit ist es aber genauso; ebenso in Frankreich und Italien.

Was hat Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten am stärksten verwandelt?

Ganz eindeutig: Ludwig Erhard und alles, was sich mit ihm verbindet. Das kommt übrigens bei Wehler immer noch zu kurz. Ohne diese Schlüsselfigur kann man gar keine deutsche Geschichte der Nachkriegszeit schreiben. Er hat zwar die Währungsreform 1948 nicht erfunden. Aber er hat mutig gegen General Clay und alle anderen die Aufhebung der Rationierung durchgesetzt. Damit schaffte er es, eine schlummernde, völlig andere Grundeinstellung zur Eigentätigkeit zu erzeugen. Alle haben ihn zunächst gehasst. Mein Vater, Sozialdemokrat und damals Vizepräsident des Wirtschaftsrats, bekam Briefe von seinen Hamburger Wählern: „Gustav, vergiss nie: die Rationierung ist der Schutz der Armen!“ Das war die vorherrschende Meinung und hat ja auch zunächst eine gewisse Plausibilität. In Großbritannien behielt man die Rationierung bei bis zur Mitte der fünfziger Jahre und kam prompt ökonomisch nicht auf die Beine. Aber Erhard hat mit seiner Entscheidung eine tiefgreifende Mentalitätsveränderung ausgelöst.

Früher waren Sie weniger Fan, vielmehr Kritiker von Wrtschaftswunderdeutschland.

Ich habe wie viele damals auf die „Restauration“ in den fünfziger Jahren geschimpft. Erst in den siebziger Jahren ist mir bewusst geworden, dass diese sogenannte Restauration eine unterirdische Revolution war, in der sich Deutschland total verändert hat. Es gibt übrigens Parallelen zu Polen nach 1989: Leszek Balcerowicz hat unter Mazowiecki das Land ebenso umgekrempelt wie Erhard unter Adenauer. Was auch immer passieren wird: Hinter diese Initialzündung eines Mentalitätswandels durch ungeheuer mutige politische Entscheidungen, hin zur dynamischen Eigentätigkeit, wird Polen nicht mehr zurückfallen.

Erhard gilt aber als Vater der sozialen Marktwirtschaft und nicht als Schocktherapeut.

Natürlich wollte Erhard keine soziale Marktwirtschaft; das Soziale kam aus der katholischen Soziallehre via Adenauer, der einen guten Sinn für die Bilanz des Unvereinbaren hatte. Erhard war ursprünglich gegen die Rentenreform 1957 und schon gar nicht für die Mitbestimmung. Erstaunlicherweise hat Adenauer während dieser unterschwelligen Revolution an Erhard festgehalten, der nicht Parteimitglied war.

Sie erwähnten die schlummernde Einstellung, die von Erhard per Schockmethode wachgeküsst worden sei. Was halten Sie von Wehlers These, der Leistungsfanatismus des Nationalsozialismus sei dann entnazifiziert zur Ressource des Wirtschaftswunders geworden?

Ich habe mittlerweile meine Vorbehalte gegen Fundamentalanalysen des Nationalsozialismus, obwohl ich früher selber eine geliefert habe: die vom Nationalsozialismus als Modernisierer. Für die Entstehung eines speziellen Leistungsfanatismus in der deutschen Gesellschaft während des Nationalsozialismus war einfach nicht genug Zeit. Man darf ja nie vergessen, dass es sechs Vorkriegsjahre waren und schließlich der Zweite Weltkrieg – mehr nicht. Nach 1945 war uns in den Trümmern einfach klar: Wenn wir nicht selber anpacken, geschieht nichts. Unzählige Deutsche hatten bereits während des Krieges diese Erfahrung gemacht, durch Flucht, Ausbombung, Evakuierung. Aus diesen Ressourcen speiste sich Erhards Wirtschaftswunder. Angewandter Nationalsozialismus war das nicht.

Viele haben Wehlers Buch auch als Bilanz der Generation gelesen, zu der Sie beide gehören: Er hebt die prägenden Leistungen der sogenannten „Fünfundvierziger“ für die Bundesrepublik stark hervor. Empfinden Sie ähnlich?

Wehler verwendet ja gerne das Wort „Vogelperspektive“; aus dieser verwischen sich auch bei mir manche jener Unterschiede innerhalb der Generationen, die ich früher stark betont habe. Es war schon eine nicht uninteressante Generation, die es lange ausgehalten hat an den Schaltstellen. Es waren eine ganze Menge Leute, die es auch ziemlich lange ausgehalten haben. Selbstverständlich ist es jedenfalls nicht, dass sich heute noch bei den in Mode gekommenen Rankings zur Öffentlichkeitswirksamkeit von Intellektuellen lauter Achtzigjährige auf den vorderen Plätzen drängen.

Sehen Sie sich in einem Bilanzwettstreit der Fünfundvierziger mit den Achtundsechzigern, die Wehler ja heftig attackiert? Paradoxerweise haben er und Sie wie die Achtundsechziger die deutsche Gesellschaft um 1960 sehr kritisch gesehen; dass die Grundentscheidungen stimmten, diese Einsicht kam erst später.

Von heute aus gesehen bin ich ebenfalls der Meinung, dass die großen Reformen alle zu Beginn der sechziger Jahre einsetzten. Mein Buch „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“ habe ich in dieser unruhigen Zeit geschrieben. Damals dachte ich, es müsse noch mehr geschehen. Es war die Atmosphäre der „Spiegel“-Affäre und beginnenden Bildungsreformen, an denen ich beteiligt war. Diese Unruhe ist in meinem Buch vorhanden, ebenso immer noch die Vorstellung, es könnte alles wieder schiefgehen. Den Unsinn von der „Restauration“ habe ich auch geredet, bis mir irgendwann klar wurde, dass der entscheidende Wandel bereits passiert war. Ich war 1969 im Bundestag, als Brandt seine sehr bewegende Regierungserklärung abgab. Aber mir war eigentlich klar, dass dieses „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ schon passiert war. Es war gar kein Programm mehr da.

Sie sind selbst zu einer Ikone jener Jahre geworden: durch das bekannte Foto von Ihnen und Rudi Dutschke auf einem Autodach, in öffentlicher Diskussion am Rande des Freiburger FDP-Parteitags 1968. Teilen Sie Wehlers kritische Haltung zu den Achtundsechzigern? Hätte Dutschke seinen Marsch durch die Institutionen ebenfalls als Minister beenden können?

Das glaube ich nicht. Er war wohl doch ein echter permanenter Revolutionär der Che-Guevara-Kategorie. Menschlich lasse ich nichts auf ihn kommen. Aber große Wirkung hatte er eigentlich nicht. In meiner und Wehlers Generation gab es eine typische Reaktion in jenen Jahren: Als es noch um Hochschulreformen ging, war man für Bewegung. Als man schließlich merkte, dass es um Revolution ging, wandte man sich heftig dagegen. Unter uns waren ja viele, die als erste in ihrer Familie studieren konnten. Diese Arbeiterkinder wollten sich ihren Lebenstraum von der Universität nicht kaputt machen lassen von diesen barbarischen Bürgerkindern – gerade wenn man es als Arbeiterkind wie ich geschafft hatte, in Tübingen Professor zu werden. Aufs Ganze gesehen ist „1968“ überschätzt worden; welthistorisch ist ohnehin Maos chinesische Kulturrevolution das entscheidende Ereignis dieses Jahres.

Ihr letztes Buch „Versuchungen der Unfreiheit“ handelte von den Intellektuellen im zwanzigsten Jahrhundert, mit den Haupthelden Raymond Aron, Isaiah Berlin und Karl Popper, allesamt Freiheits-Denker und europäische Vaterfiguren für Sie. War das ebenfalls ein Bekenntnisbuch?

Vielleicht ist es das. Aber Sie dürfen nicht vergessen, dass ich eben doch nur sehr begrenzt ein deutsches Leben hatte. Vielleicht sieht man es auch daran, dass ich 1989 als europäisches Ereignis erlebt habe und damals ständig in Warschau, Prag und Budapest war – und nicht in Deutschland. Das unterscheidet mich von den meisten meiner Altersgenossen. Wenn man sich die letzten drei Jahrzehnte ansieht, so sind meine Erfahrungen wohl doch andere als die allgemeine Generationserfahrung.

Das Gespräch führten Patrick Bahners und Alexander Cammann.

Okt 2008 | Allgemein, Feuilleton, Politik, Wirtschaft, Zeitgeschehen | 1 Kommentar