Neue Religiosität und leere Kirchen sind für Ulrich Beck kein Widerspruch: Buddhismus, Pilgerwandern, Koran – moderner Glaube ist ein spiritueller Baukasten.
Ulrich Beck, alle Klassiker Ihres Fachs, von Marx bis Weber, haben sich früh an der Religion abgearbeitet. Sie veröffentlichen erst ein Jahr vor Ihrer Emeritierung ein Buch über Religion.

Ich dachte lange, dass die Religion ausstirbt. Das ist es, was die Klassiker lehren. Doch dann betrat die Figur eines verwestlichten Muslims die Bühne, die Selbstmordattentäter wird. Dabei dachte nicht nur ich: Wenn einer konsumiert und mit Wissenschaft in Berührung kommt, verlässt ihn der Wunsch nach Religion. Ein anderer Punkt ist, dass ich angesichts der lebendigen Religiosität der Muslime im Westen merkte, dass ich selbst christlich geprägt bin, selbst noch in meinem Nicht-Glauben.

Waren Ihre Eltern gläubig?

Sie waren beide Atheisten. Das heißt, mein Vater fand das Göttliche in der Natur. Er verklärte die Natur religiös, was ich immer überspannt fand.

Hätte also schon Ihr Vater seinen eigenen Gott gehabt?

Ja, das war wohl ein eigener Gott.

Warum – SIe haben das so geschrieben – ist Ihr Credo des Nichtglaubens ein christlicher?

Unser Atheismus ist am Christentum geschult und oft ratlos in Anbetracht anderer Religionen – des Islam oder der Religionen in Japan, zwischen denen die Menschen je nach Anlass hin und her wechseln. Die Japaner besuchen zu bestimmten Jahreszeiten einen Shinto-Schrein, sie heiraten christlich und lassen sich von einem buddhistischen Mönch beerdigen. Auch bei uns kombinieren Menschen immer häufiger verschiedene Religionen. Darauf waren wir christliche Atheisten nicht vorbereitet. Sartre hat zu Recht gesagt: „Wir sind alle noch katholisch.“ In unserem Denken.

Ausgerechnet am 11. September 2001 waren Sie auf dem Jakobsweg und wanderten. Hat der Jakobsweg für Sie eine religiöse Faszination?

Nein. Für uns war das nur eine gut organisierte Wandermöglichkeit.

Sie schreiben, die Rückkehr der Religiosität in Europa zeige sich im individuellen Besuch geweihter Orte. Der Jakobsweg ist so ein geweihter Ort. Hape Kerkeling, der über seine Reise auf dem Jakobsweg geschrieben hat, nennt seinen Glauben einen „Buddhismus mit christlichem Unterbau“.

Das ist so eine typische Religionsmischung. Alle Religionen existieren heute überall nebeneinander und werden von den Menschen kombiniert. Man holt sich überall das Beste heraus. So schafft sich der einzelne Mensch die Glaubenserzählungen – den eigenen Gott –, die zum eigenen Leben, zum eigenen Erfahrungshorizont passen.

Gleichzeitig leeren sich die Kirchen. Doch Ihre These ist: Die Religiosität kommt zurück.

Weltweit erlebt der Katholizismus die vielleicht erfolgreichste Missionierung seiner Geschichte: in Südamerika, Asien und Afrika. Auch die Evangelikalen expandieren. Am schnellsten wächst der Einfluss des Islam. Das heißt, in globaler Perspektive kann man überhaupt nicht vom Verschwinden der Religion reden. Dann gibt es die USA, wo man nie einen so starken Gegensatz zwischen Aufklärung und Religion gesehen hat wie in Europa und wo viele Religionen nebeneinander lebendig sind. Schließlich erscheinen in Europa ausgerechnet Vertreter besonders modernisierter Berufe wie Techniker oder Wirtschaftswissenschaftler als Träger von Religiosität. Sie sind noch in der Kirche aktiv oder öffnen sich für Neues. Vom Abdanken der Religion in der Moderne kann keine Rede sein.

Sie behaupten, die Religion profitiere ironischerweise von der Säkularisierung. Davon also, dass sie entmachtet worden ist.

Die Religion hat den Anspruch auf Welterklärung an die Wissenschaft abgegeben und den Anspruch auf Herrschaftslegitimation an die Politik. Das bedeutet zugleich: Sie kann sich jetzt auf das Eigene konzentrieren. Auf das spirituelle Erlebnis. Das ist es, was die Menschen vermehrt suchen.

Eine Annahme der Säkularisierungstheorie war, dass die Religion aus der Öffentlichkeit verschwindet und zur Privatsache der Menschen wird.

Falsch. Zum einen gibt es die Muslime, die sich über Karikaturen ihres Propheten in einer Zeitung aufregen und damit eine Debatte auslösen. Zum anderen melden die christlichen Kirchen sich kritisch zur Humangenetik zu Wort. Da steht die Wissenschaft einseitig aufseiten des technischen Fortschritts, und die Religion hat sich ein neues Stimmrecht erworben. Wenn ein atheistischer Denker wie Jürgen Habermas fragt, ob so etwas wie ein reflektiertes Tabu möglich sei, dann greift er auch auf religiöse Motive zurück.

Was sehen Sie in China, einem Land mit diktatorischer Herrschaft und dynamischer Wirtschaft?

In China werden die Menschen in Windeseile aus Traditionen freigesetzt und können plötzlich – solange sie sich nicht politisch engagieren – vieles machen. Das führt zu moralischer Anarchie und dazu, dass die postkommunistischen Eliten der Religion mehr Freiheit zugestehen.

Das massenmedialisierte Papsttum, schreiben Sie, sei ein weiteres Beispiel für die neue Öffentlichkeit der Religion.

Trotzdem bringt es der Kirche in Europa keine neuen Mitglieder. Die Papstbegeisterung ist für viele nur ein Teil in ihrem spirituellen Baukasten.

In Europa müssen Kirchen schließen, während neue Moscheen gebaut werden.

Das ist eine große Toleranzzumutung. Zumal wenn im Stadtbild gleichzeitig unser Traditionsverlust und die Lebendigkeit des Islam sichtbar werden. Dabei ist der Islam keineswegs nur eine Religion, die die Einwanderer mitgebracht haben, sondern es entsteht ein neuer Islam im Westen. Die Gläubigen müssen ihre Religion fern der Heimat neu definieren. Andere, Kinder von säkularen Einwanderern, finden erst hier zum Islam, einem westlichen Islam.

Trotz neuer Formen von Religiosität, die Sie sehen – sinkt die Zahl der Gläubigen nicht insgesamt?

Es gibt keine Studien, die Religiosität jenseits von Kirchenmitgliedschaft zuverlässig messen.

Sie zitieren eine Studie, die zu dem Ergebnis kommt, dass die neue Religiosität das Verschwinden der alten nicht ausgleicht.

Diese Studie ignoriert die Muslime im Westen.

Das ist doch schlüssig. Die Säkularisierungsthese wurde für eine Gesellschaft aufgestellt, die sich über lange Zeit modernisiert. Wenn Menschen aus weniger modernen Gesellschaften einwandern, kann das die Zahlen durcheinanderwirbeln. Und es gibt ebenso viele jungen Deutschtürken, die hier religiös werden, wie solche, die hier Atheist werden.

Die Schwierigkeit ist: Säkularisierung und Religiosität mischen sich oft paradox. Die Türkei wäre dafür ein Beispiel. Eine islamische Regierung führt ihr Land nach Europa. Europa verliert das Monopol auf die Moderne. Gerade war ich in Südkorea. Die Menschen dort haben in 30 Jahren nachgeholt, wofür wir 150 Jahre gebraucht haben.

Aber in diesen Ländern breitet sich gleichzeitig ein weltliches Lebensmodell aus …

… und das Gegenteil. Die Wissenschaftler in Südkorea, die ich traf, begehen privat Totenfeiern, bei denen die Toten anwesend sind. Gerade die Geschwindigkeit der Modernisierung bedarf der religiösen Rückversicherung. Religiosität ist kein Relikt, sondern Produkt einer Moderne, die ihre eigenen Grundlagen infrage stellt.

Die Moderne hat heute auch keine eigene Ideologie mehr. Marx hat der Religion noch seine eigene Ideologie entgegengestellt.

So ist es. Die Religiosität kommt in dem Moment zurück, da die Moderne an sich selbst zweifelt. Gerade die gute Wissenschaft wird vielstimmig, produziert mehr Ungewissheit als Gewissheit. So entsteht ein neues Bedürfnis nach Glauben. Neulich hörte ich, dass alternative Eltern in Berlin ihre Kinder in christliche Kindergärten geben. Das Kind könne sich später anders entscheiden, aber moralische Grundsätze solle es schon mitbekommen.

Folgt man Ihren Ausführungen, wäre Religion global.

Religion ist von Anfang an Weltreligion. Der Glaubenskern aller Weltreligionen ist: Alle Menschen sind vor Gott gleich. So überwindet Religion nationale und ethnische Grenzen und strebt die Weltgesellschaft an.

Zugleich entstehen weltweite Konflikte wie im Streit um die Mohammed-Karikaturen oder lokale Konflikte beim Bau von Moscheen in deutschen Städten.

Die Religionen haben diesen Grundwiderspruch: Einerseits sind alle Menschen gleich. Andererseits werden die Menschen wieder aufgeteilt in Richtiggläubige und Falschgläubige. Daraus entsteht eine Gefahr für den Frieden weltweit.

Was bedeutet die Vielfalt der Religionen an jedem Ort für den einzelnen Gläubigen?

Der Einzelne hat zwei Möglichkeiten. Entweder er versucht, das Eigene, zum Beispiel Katholische, noch mehr herauszustellen. Oder er betrachtet den anderen auch aus dessen Perspektive, teilt seine Perspektive. Das muss nicht in Richtung einer Mischreligiosität gehen. Gandhi hat die hinduistische Bhagavad Gita erst während seiner Zeit in London gelesen, auf Englisch. Er lebte im Westen, als er sich in die Religion vertiefte.

Das trifft auch auf Mohammed Atta zu oder auf Mohammed Boujeri, den Mörder von Theo van Gogh. Beide entdeckten den Islam im Westen.

Individualisierung durch Globalisierung kann zur Bereicherung führen – oder in den Hass.

In Ihrem Buch zitieren Sie die Tagebücher von Etty Hillesum – einer Frau, die in Auschwitz als Jüdin ermordet wurde, die tatsächlich aber im streng religiösen Sinn weder Jüdin noch Christin war.

Die Tagebücher der Etty Hillesum sind ein radikales Dokument des eigenen Gottes. Sie haben eine besondere Glaubwürdigkeit, weil Hillesum dieses Gespräch in einer existenziellen Not führte. Aus dem Selbstgespräch entwickelte sich ein Gespräch mit einem eigenen Gott. Sie erhoffte sich keine Rettung. Sie sah ihren Gott als hilflos. Sie war es, die Gott helfen musste, damit er seine Stimme in der Katastrophe des Holocaust nicht verliert. Deswegen ist das ein ernst zu nehmendes Beispiel des eigenen Gottes.

Welche Merkmale habe der eigene Gott? In Ihrem Buch verwenden Sie Ausdrücke wie Gegenseitigkeit im Gespräch, demokratisch, mitmenschlich.

Religion wandelt sich in Religiosität. Deren Kern ist es, einen eigenen Gott zu haben, der für andere unplausibel, für einen selbst aber unüberbietbare Richtschnur ist. Das ist oft nicht der Gott der Kirchen, Synagogen, Moscheen und Tempel, sondern der Gott der eigenen Erfahrungen. Der Einzelne kann einen absoluten Gott erschaffen. Die Autorität des wiederbelebten Glaubens aber bleibt der einzelne Mensch.

Sie sagen, der eigene Gott wandert aus den Kirchen aus. Kennt er tatsächlich keine institutionelle Form?

Doch, die Menschenrechte. Sie heiligen das Individuum. In diesem Sinne stellt Amnesty International eine moderne Kirche des eigenen Gottes dar.

Eine Kirche ohne Religion?

Ja. Ohne Glauben an Gott. Doch die Menschenwürde leitet sich von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen ab.

Wenn Sie von Gegenseitigkeit und Demokratie sprechen, möchte ich dagegen fragen, wie repräsentativ das ist.

Alle Religionen bauen darauf auf, dass der Einzelne sagt: „Ich glaube.“ Luther ist beispielhaft für dieses Prinzip: Hier stehe ich und kann nicht anders. Das glaubende Individuum steht außerhalb der Kirche und ist ermächtigt, durch Lesen des Heiligen Textes eine eigene Gottbeziehung aufzubauen.

Die Luther-Figur passt aber auch wieder zum Islamismus. Die Terroristen bauen ihre eigene Gottbeziehung durch Lesen des Koran auf. Auch die Formel der neuen Religiosität, dass Gottfindung Selbstfindung sei, passt auf die Terroristen.

Bei Luther und Calvin hat der Weg zum eigenen Gott auch ein blutiges Nachspiel gehabt – die Religionskriege.

Darum, finde ich, ist das Beispiel der Etty Hillesum nicht repräsentativ. Es behauptet: Der Glaube an einen eigenen Gott sei gut, mitmenschlich, demokratisch. Dagegen neige die organisierte Religion zur Intoleranz.

Mir ging es bei Etty Hillesum darum, zu zeigen, dass der eigene Gott nicht als Esoterik abgetan, sondern als eine neue historische Form der Religiosität begriffen werden muss. Der eigene Gott wird in unserer Gesellschaft lächerlich gemacht: Es ist die Rede von Wellnessreligion. Ich will die Individualisierung Gottes als soziologisches Phänomen ernst nehmen.

Natürlich wäre das absurd: Eigene Religiosität ist oberflächlich, die geerbte Mitgliedschaft in der katholischen Kirche hingegen ganz toll und tief.

Genau. Wenn im Zuge der Individualisierung die Menschen aus Parteien austreten, aus Gewerkschaften oder aus Kirchen, hört man immer den Vorwurf: Die Menschen seien zu Egoisten geworden. Missverständnis! Die Leute geben sich nur nicht mehr mit den Einheitsangeboten von Großorganisationen zufrieden.

Hauptthese Ihres Buches ist, dass aus der Individualisierung der Religion der neue Geist der Weltgesellschaft entsteht. Das stellt Marx auf den Kopf: Das Moderne entsteht nicht durch Überwindung der Religion, sondern aus der Religion.

Möglicherweise können die Religionen die nationalstaatliche Moderne leichter überwinden als der wissenschaftliche und politische Verstand, der in den Grenzen der Nationen denkt.

Man kann die Tatsache, dass Ihr eigener Gott ein westlicher ist, auch mit dem Toleranzparadox ausdrücken. Einer sagt: „Ich bin für Toleranz.“ Der andere sagt: „Ich nicht.“

Das stimmt. Die Terroristen wollen etwas anderes als Toleranz und Vielfalt. Sie wollen die Reinheit der Lehre wiederherstellen.

Aber Sie hoffen trotzdem?

Ja. In Südkorea traf ich einen buddhistischen Mönch. Er erkannte einen Bruder aus einem früheren Leben in mir … Er sagte, der Buddhismus sei eine Religion des Nicht-Wissens. Das ist meine Hoffnung und auch mein Appell: dass Religionen den Anspruch der Wahrheit ersetzen durch den Anspruch auf Frieden. Was aber nur geht, wenn sie das Nicht-Wissen akzeptieren.

Passiert es Ihnen, dass Ihr Selbstgespräch zum Gottgespräch wird?

Nein. Aber wenn ich einen Obdachlosen sehe, denke ich an den Satz: „Was du dem geringsten meiner Brüder tust, das hast du mir getan.“

Sep 2008 | Allgemein | 1 Kommentar