Heute vor fünf Jahren starb der große Philosoph. Wir erinnern uns vieler Stunden mit ihm in Heidelberg in der Grabengasse und gedenken seiner, indem wir sein Hauptwerk (versuchen) in Erinnerung bringen.

Hans Georg Gadamer im Gespräch mit Antoine Mechler

Hans-Georg Gadamer im Gespräch mit Antoine Mechler

1960 veröffentlichte der Heidegger-Schüler Hans-Georg Gadamer (einer, der zuhören konnte, hier im Gespräch mit Antoine Mechler. Foto: Jürgen Gottschling) sein Hauptwerk Wahrheit und Methode, den großangelegten Versuch einer „philosophischen Hermeneutik“. Darin geht es ihm um „Wahrheit“ statt „Methode“ (verstanden als Verfahrensweise, die sachliche oder symbolische Zusammenhänge nach intersubjektiv kontrollierten Regeln, also nach dem Vorbild der mathematisch-naturwissenschaftlichen „Methode“ zu analysieren sucht). Dieses Werk löste in der Folgezeit auch eine verstärkte hermeneutische Reflexion in der deutschen Literaturwissenschaft aus.

Hermeneutik ist für Gadamer mehr Geschehen als Verstehen. Sie ist die besondere Art und Weise, in der ein kulturell gewachsener Überlieferungs-, Traditions- und Normzusammenhang aufrechterhalten bzw. weiterentwickelt wird. Dabei akzentuiert Gadamer die Sprachlichkeit des hermeneutischen Geschehens, d.h.er betont die Vorgegebenheit eines Sprachsystems und die Teilhabe der Individuen daran. Durch das Lesen, Auslegen und Weitervermitteln von überlieferten Texten, vor allem auch durch ihre Neuinterpretation, schließen wir unsere Gegenwart immer aufs Neue an die soziokulturelle Tradition an.

Wahrheit und Methode (1960)

Eine entscheidende Frage für die Hermeneutik ist ihr Umgang mit der sogenannten hermeneutischen Distanz, also etwa der historischen Differenz zwischen Text und Leser. Hans-Georg Gadamer diskutiert diese Frage unter dem Begriff des Zeitabstands:

Die hermeneutische Bedeutung des Zeitabstandes

Die Hermeneutik muß davon ausgehen, dass wer verstehen will, mit der Sache, die mit der Überlieferung zur Sprache kommt, verbunden ist und an die Tradition Anschluss hat oder Anschluss gewinnt, aus der die Überlieferung spricht. Auf der anderen Seite weiß das hermeneutische Bewußtsein, dass es mit dieser Sache nicht in der Weise einer fraglos selbstverständlichen Einigkeit verbunden sein kann, wie sie für das ungbrochene Fortleben einer Tradition gilt. Es besteht wirklich eine Polarität von Vertrautheit und Fremdheit, auf die sich die Aufgabe der Hermeneutik gründet, nur dass diese nicht mit Schleiermacher psychologisch als die Spannweite, die das Geheimnis der Individualität birgt, zu verstehen ist, sondern wahrhaft hermeneutisch, das heißt im Hinblick auf ein Gesagtes: die Sprache, mit der die Überlieferung uns anredet, die Sage, die sie uns sagt. Auch hier ist eine Spannung gegeben. Die Stellung zwischen Fremdheit und Vertrautheit, die die Überlieferung für uns hat, ist das Zwischen zwischen der historisch gemeinten, abständigen Gegenständlichkeit und der Zugehörigkeit zu einer Traditon. In diesem Zwischen ist der wahre Ort der Hermeneutik. […]

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Nun ist die Zeit nicht mehr primär ein Abgrund, der überbrückt werden muss, weil er trennt und fernhält, sie ist in Wahrheit der tragende Grund des Geschehens, in dem das Gegenwärtige wurzelt.

(Foto: Philipp Rothe,  Juli 99 in Gadamers Arbeitszimmer)

Der Zeitabstand ist daher nicht etwas, was überwunden werden muss. Das war vielmehr die naive Voraussetzung des Historismus, dass man sich nämlich in den Geist der Zeit versetzen, dass man in deren Begriffen und Vorstellungen denken solle und nicht in seinen eigenen und auf diese Weise zur historischen Objektivität vordringen könne. In Wahrheit kommt es darauf an, den Abstand der Zeit als eine positive und produktive Möglichkeit des Verstehens zu erkennen. Er ist nicht ein gähnender Abgrund, sondern ist ausgefüllt durch die Kontinuität des Herkommens und der Tradition, in deren Lichte uns alle Überlieferung sich zeigt. Hier ist es nicht zuviel, von einer echten Produktivität des Geschehens zu sprechen. Jedermann kennt die eigentümliche Ohnmacht unseres Urteils dort, wo uns nicht der Abstand der Zeiten sichere Maßstäbe anvertraut hat. So ist das Urteil über gegenwärtige Kunst für das wissenschaftliche Bewußtsein von verzweifelter Unsicherheit. Offenbar sind es unkontrollierbare Vorurteile, unter denen wir an solche Schöpfungen herangehen, Voraussetzungen, die uns viel zu sehr einnehmen, als daß wir sie wissen könnten und die der zeitgenössischen Schöpfung eine Überresonanz zu verleihen vermögen, die ihrem wahren Gehalt, ihrer wahren Bedeutung nicht entspricht. Erst das Absterben aller aktuellen Bezüge lässt ihre eigene Gestalt sichtbar werden und ermöglicht damit ein Verständnis des in ihnen Gesagten, das verbindliche Allgemeinheit beanspruchen kann.

Diese Erfahrung ist es, die in der historischen Forschung zu der Vorstellung geführt hat, dass erst aus einem gewissen geschichtlichen Abstande heraus objektive Erkenntnis erreichbar werde. Es ist wahr, dass das, was an einer Sache ist, der ihr selbst einwohnende Gehalt, sich erst im Abstand von der aus flüchtigen Umständen entstandenen Aktualität scheidet. […] Gewisse Fehlerquellen sind da von selbst ausgeschaltet. Aber es fragt sich, ob das hermeneutische Problem sich damit erschöpft. Der zeitliche Abstand hat offenbar noch einen anderen Sinn als den der Abtötung des eigenen Interesses am Gegenstand. Er läßt den wahren Sinn, der in einer Sache liegt, erst voll herauskommen. Die Ausschöpfung des wahren Sinnes aber, der in einem Text oder in einer künstlerischen Schöpfung gelegen ist, kommt nicht irgendwo zum Abschluß, sondern ist in Wahrheit ein unendlicher Prozeß.“ tno

März 2007 | Heidelberg, Allgemein, Buchempfehlungen, Feuilleton, Junge Rundschau, Senioren | 1 Kommentar